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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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immer er auf der Welt war – Künstler sollte er nicht werden. Diese quälende Gewissheit ließ Aurelio nicht zur Ruhe kommen. Denn Bauer zu werden war auch nicht seine Bestimmung, dessen war er sicher. Gut, er war als Bauer aufgewachsen, aber wie hatte Tommaso gesagt: Da war immer der Blick in die Ferne. Sein ganzes Leben lang war er davon überzeugt gewesen, zu wissen, wer er einmal sein würde. Jetzt wusste er nur noch, woher er kam. Eine schwarze Leere breitete sich in ihm aus. Wie konnte man existieren, ohne zu wissen, wofür? Die größte Gewissheit seines Lebens, die ihm die Kraft gegeben hatte, alles hinter sich zu lassen und diese Reise zu unternehmen, war verbrannt in den Strichen eines mühelos über das Papier kratzenden Kreidestiftes.
    Aurelio drehte der Zeichnung den Rücken zu, rollte sich wie ein Fötus zusammen, sponn einen Kokon aus Decken um sich und schob seine Hände zwischen die Knie. Als endlich die Kerze heruntergebrannt war und das Licht erlosch, empfand er ein Gefühl der Dankbarkeit. Er wollte nichts mehr sehen müssen. Und noch immer waren aus der Dunkelheit über ihm die Schritte seines Meisters zu hören.
    Erst mit dem anbrechenden Tag fand auch der erste tröstliche Gedanke seinen Weg zu Aurelio. Gott wollte nicht, dass er ein Künstler wurde. Das bedeutete jedoch nicht, dass Gott überhaupt nichts mit ihm im Sinn hatte. Schließlich hatte er Aurelio die Illusion lange genug erhalten, um ihn bis nach Rom zu führen, zu Michelangelo. Außerdem hatte auch Aurelio ein Talent: seine begabten Hände. Und er hatte dieses Gesicht, das der Heilige Vater einen »Quell der Inspiration« genannt hatte. Aurelio wusste, woher er kam. Wer er war oder sein würde – nun, das herauszufinden war offenbar seine Aufgabe.

XII
    Als sein Meister die Kammertür aufriss, lag Aurelio unverändert mit dem Gesicht zur Wand, die Hände zwischen den Knien, seine Lider verklebt, die Wangen verkrustet, der Mund ausgetrocknet. Es dauerte geraume Zeit, bis er den ohnmachtsähnlichen Schlaf abgeschüttelt hatte und wieder wusste, wo er sich befand – und dass es Michelangelo Buonarroti war, der nun schon zum wiederholten Male seinen Namen rief. Beim Aufstehen schmerzten seine Glieder wie nach einem langen Erntetag auf dem Feld.
    Michelangelo hatte den provisorisch errichteten Tisch ab- und in der Werkstatt wieder aufgebaut. »Mehr Licht«, erklärte er, als Aurelio mit blinzelnden Augen den von der Morgensonne durchfluteten Raum betrat. Der weiße Staub, der noch immer den Fußboden bedeckte, glitzerte wie Raureif. »Zieh dir Schuhe an, bevor du hereinkommst«, fuhr der Meister fort, »sonst ritzt dir der Marmor die Fußsohlen auf.«
    Auf dem Tisch lagen ein Brot, ein Stück Käse, ein Messer sowie ein Stapel Zeichnungen. Aurelio wagte sich kaum heran.
    Die Decke der Sistina. In zwei Dutzend unterschiedlichen Ausführungen. Die ersten Entwürfe hielten sich noch streng an die Vorgaben des Papstes: die zwölf Apostel vor dem Hintergrund geometrisch verschachtelter Muster. Doch nahmen die Apostel nach und nach übermenschliche Größe an, wuchsen sich zu Göttern aus, veränderten ihre Positionen, teilten sich den Raum jedes Mal neu, traten schließlich sogar miteinander in Beziehung und erzählten eine Geschichte. Danach schien der Vorstellungskraft Michelangelos das Korsett der päpstlichen Vorgaben zu eng geworden zu sein. Räume nahmen Gestalt an, Podeste, Treppen und angedeutete Landschaften waren zu sehen, während für die geometrischen Figuren immer weniger Platz blieb. In den letzten Entwürfen gesellten sich den Aposteln schließlich weitere Figuren hinzu, nackte, muskulöse Männer, die Säulen schulterten oder Gesimse stützten. Die Arbeit von weniger als sechs Stunden. Entsprungen dem Geist eines einzigen Mannes. Er musste brennen, von innen.
    Michelangelo hatte Aurelio den Rücken zugewandt und betrachtete durch das Fenster den blühenden Feigenbaum hinter dem Haus. Aurelio spürte, dass er auf ein Wort seines Gehilfen wartete.
    »Was würde wohl Papst Julius dazu sagen, wenn er wüsste, dass sich in Eurer Phantasie nackte Männer im Gewölbe seiner Kapelle tummeln?«
    Michelangelo antwortete, ohne sich umzudrehen. »Es werden nur schöne Körper sein, und Julius hat durchaus Sinn für Schönheit.«
    Aurelio dachte an die Fresken der anderen Florentiner Künstler, die er an den Wänden der Kapelle gesehen hatte. Keiner hatte es gewagt, einen entblößten Körper darzustellen. »Ihr wollt das

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