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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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Aurelio hörte ihn über sich hin und her gehen und eine Truhe öffnen. Einen Moment später kam er die Stufen wieder herunter, ein blaues Tuch wie eine Beute vor sich hertragend. »Hier.«
    Er reichte Aurelio das Tuch, das er eilig losließ, sobald Aurelio es berührte. Es war aus fein gesponnener Baumwolle und schien noch nie benutzt worden zu sein.
    Michelangelo deutete auf Aurelios Kopf. »Da oben«, erklärte er, »und zieh dir ein anderes Hemd an.«
    »Was ist mit Euch?«, gab Aurelio zurück, während er seine Locken trockenrieb.
    Michelangelo, der ganz in den Anblick seines Gehilfen versunken war, befühlte seine Haare. »Oh, die sind nur ein wenig feucht.« Er zwang seinen Blick zurück auf das Blatt. »Also: Was hältst du davon?«
    »Euer Können ist …« – Aurelio suchte nach dem richtigen Wort, »es ist Magie, Maestro.«
    »Ich meine den Entwurf, Aurelio, nicht mein Können. Das ist nur eine Leihgabe Gottes. Was sagst du zu dem Entwurf: Gefällt er dir?«
    Aurelio betrachtete die Decke der Kapelle, der Michelangelo durch die Figuren und Muster in so kurzer Zeit Leben eingehaucht hatte. Er verspürte den drängenden Wunsch, etwas zu sagen, das ihn in den Augen seines Meisters nicht wie einen Schafskopf aussehen ließ.
    Er deutete auf eine der Figuren. »Sind das die Apostel, von denen Julius sprach?«
    Michelangelo ging sie der Reihe nach durch: »Petrus, Jakobus der Ältere, Matthäus, Simon, Jakobus der Jüngere … So stellt sich der Papst die Decke vor: Zwischen den Fenstern die zwölf Apostel, den Rest soll ein Flechtwerk aus ineinandergreifenden Kreisen und Quadraten bedecken.« Er erklärte Aurelio, dass solche Muster im antiken Rom sehr in Mode gewesen waren und dass Julius erst kürzlich zwei anderen Künstlern sehr ähnliche Aufträge erteilt hatte: Pinturicchio, der das Deckengewölbe von Santa Maria del Popolo ausschmücken sollte, und »Raffael, dieser Schönling, der Julius’ Bibliothek auf dieselbe Weise verzieren wird«.
    Aus den Worten seines Meisters schloss Aurelio, dass Michelangelo sich nicht damit zufriedengeben würde, den päpstlichen Auftrag so auszuführen, wie Julius es von ihm verlangte. »Das zu tun, was andere bereits vor Euch getan haben, befriedigt Euch nicht«, stellte er fest.
    Michelangelo sah Aurelio an, als habe erst der ihm den wahren Grund für seinen Widerwillen aufgezeigt. Doch falls es so war, dann verbarg er diese Erkenntnis schnell wieder. »Auf jeden Fall ist Julius’ Fähigkeit, eine Schlacht auszumalen, deutlich stärker entwickelt als seine Imaginationsfähigkeit dieses Deckengewölbe betreffend.«
    »Was also wollt Ihr tun?«
    »Ich bin Künstler, Aurelio, kein Seher.« Er lächelte, was nicht nur seine Nase, sondern auch seinen Mund schief aussehen ließ und eine Seite an ihm zum Vorschein brachte, die er seinem Gehilfen bis dahin noch nicht preisgegeben hatte. »Aber morgen werde ich hundert Skizzenblätter und ein halbes Dutzend Blöcke bekommen, um herauszufinden, wozu meine Imagination fähig ist.«
    * * *
    In der folgenden Nacht hörte Aurelio, wie sein Meister bis weit über die Stunde der Laudes hinaus im Zimmer über ihm auf und ab ging oder Kreise drehte wie ein eingesperrter Hund. Er selbst lag auf der Matte in der Ecke seiner Kammer und konnte keinen Schlaf finden. Der erste Entwurf für die Decke der Sistina, den sein Meister ihm überlassen hatte wie einen vertrockneten Brotkanten, lehnte an der grobporigen Wand, wo er vom Licht einer auf dem Boden stehenden Kerze beschienen wurde.
    Vergiss nie, wer du bist und woher du kommst, hatte sein Vater gesagt. Nun, er war ein Bauer und kam aus einem Hof bei Forlì. Wo er hätte bleiben sollen. Aurelios Blick trübte sich. Wie hatte er nur so anmaßend sein können, Bildhauer werden zu wollen? Sein ganzes Leben lang hatte er davon geträumt, etwas zu erschaffen, dessen Anblick ihn in derselben Weise emporgehoben hätte, wie es der Engel in Bologna damals getan hatte. Er spürte Tränen aufsteigen. Selbst die von Michelangelo beiläufig hingeworfene Skizze zeugte von einer Meisterschaft, die Aurelio auch nach lebenslangem Studium nicht erreichen würde. Bei ihrem Anblick schrumpfte er unwillkürlich zu völliger Bedeutungslosigkeit zusammen – wie ein Stein, der zu Sand zerrieben wurde und sich schließlich von nichts mehr unterschied, das ihn umgab. So trug Aurelio in dieser Nacht, einsam in seiner Kammer liegend, still und unbemerkt vom Rest der Welt, seinen Lebenstraum zu Grabe.
    Wozu auch

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