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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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bemerken. Verdrossen und barhäuptig stapfte er durch den Lehm, dass der Matsch von seinen Schuhen aufspritzte. Während die anderen Passanten eilig ihre Köpfe bedeckten oder sich unter den Vordächern und überhängenden Balkonen in Sicherheit brachten, ging er selbst dann noch unbeirrt mitten auf der Straße, als ihm der Regen bereits aus dem Bart tropfte und in Rinnsalen über die Stirn lief.
    »Ich wusste es.«
    Er blieb stehen. Einen Schritt weiter, und er wäre mit einem Maultier zusammengestoßen, das einen Karren hinter sich herzog und jetzt ebenfalls stehengeblieben war. Er blickte das Tier an, als frage er sich, was ihm einfiele, sich ihm in den Weg zu stellen. Von beiden Nasen tropfte der Regen herab. Der Mann auf dem Karren stieß unter seinem tief ins Gesicht hängenden Hut einen Fluch aus und lenkte sein Maultier schließlich um den Bildhauer herum.
    »Was wusstet Ihr, Meister?«
    Michelangelo setzte seinen Weg fort. »Dass Bramante dahintersteckt.« Er ging in der Mitte der beiden Rillen, die die Räder des Karrens in den Lehm gedrückt hatten. »Du hast gehört, was der Fettwanst gesagt hat: Seit Wochen erzählt man sich bereits, dass die Sistina beschlossene Sache ist, und ich …«
    »Ihr erfahrt es erst gestern«, führte Aurelio seinen Gedanken zu Ende.
    Der Bildhauer schüttelte den Regen von sich ab wie ein Hund. »Hätte Julius alleine die Idee ersonnen, hätte ich davon als Erster erfahren.«
    »Was nicht bedeutet, dass es Bramante gewesen sein muss.«
    »Schweig, Schlauberger! Bramante war’s! Er hat dafür gesorgt, dass ich diesen Auftrag erhalte – weil er sicher ist, dass ich die Aufgabe nicht bewältigen kann.« Er blickte zu seinem neuen Gehilfen auf und studierte dessen Gesicht. Wieder war da dieses plötzliche Erstaunen – als nehme er ihn erst jetzt richtig wahr. Seine Hand begann, Aurelios Gesicht entgegenzuschweben, hielt auf halber Strecke inne und zog sich wieder zurück. »Unerhört!«, brummte er.
    »Entschuldigt, ich wollte Euch nicht widersprechen. Ich …«
    »Das ist es nicht.«
    * * *
    Kaum hatte Aurelio die Tür hinter ihnen geschlossen und Michelangelo seinen durchnässten Umhang abgelegt, stand der Künstler bereits am Tisch über ein Skizzenblatt gebeugt und drehte ein Stück schwarzer Kreide zwischen den Fingern. Abwesend strich er sich den Regen aus der Stirn. Aurelio wurde Zeuge, wie innerhalb weniger Augenblicke alles um Michelangelo herum – der Raum, der Regen, die Geräusche der Straße – von der Wahrnehmung des Meisters ausgeschlossen wurde, bis nur noch er und das vor ihm liegende Blatt übrig waren.
    »Sechzig Ellen Länge, zwanzig Ellen Breite, dreißig Ellen Höhe«, flüsterte er, während sein linker Fuß nach einem Stuhl angelte und er den Kreidestift anleckte.
    Was darauf folgte, grenzte für Aurelio an ein Wunder. Wie von Geisterhand geführt, warf der Stift in atemloser Hast Linien auf das Papier und ließ die Sixtinische Kapelle entstehen, so wie Aurelio sie erblickt hatte, als er sie durch den Seiteneingang betrat. Vor Staunen vergaß er, seinen Umhang abzulegen, und stand bald in seiner eigenen Pfütze. Nur wenige Striche Michelangelos reichten aus, ihn die Wölbung der Decke fühlen zu lassen. Kurz darauf, die Fenster, Lünetten und Zwickel hatten eben erst Gestalt angenommen, erschienen von Säulen gerahmte Figuren zwischen den Spandrillen, als träten sie aus dem Nebel hervor, und das restliche Gewölbe füllte sich mit geometrischen, ineinander verschachtelten Mustern. Aurelio war fassungslos. Mit solcher Mühelosigkeit bewegte sich der Stift über das Blatt, dass es ihm vorkam, als sei jeder Strich bereits als unsichtbare Linie vorgezeichnet und Michelangelo müsse ihn lediglich nachziehen. Und dann, in einem Moment, in dem sich Unglauben und Gewissheit vermischten, begriff Aurelio, dass es sich genau so verhielt: Für seinen Meister existierte die Zeichnung bereits, bevor er sie zu Papier brachte. Er sah jedes Detail vor sich, bevor er den Stift ansetzte. Alles, was er tun musste, war, die Linien nachzuziehen.
    Michelangelo trat einen Schritt zurück. Wie auf ein Fingerschnippen war er wieder Teil der Welt, die ihn umgab. »Was meinst du?«
    Aurelio starrte auf die Zeichnung, als habe sich Luzifer persönlich auf dem Tisch materialisiert.
    »Ist dir nicht wohl?«, fuhr Michelangelo fort. »Du bist ja völlig durchnässt! Warte, ich hab …« Er sah sich um. »Irgendwo hab ich …« Er eilte die Stufen zum Obergeschoss hinauf.

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