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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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di Nona bereits zu sehen war. Das Wiedersehen mit Margherita hatte die Erinnerung an ihre Reise und die letzte gemeinsame Nacht wiederaufleben lassen. Sehr lebendig aufleben lassen. Mit ihr durch die Gassen zu gehen, ihre Nähe und ihre Weiblichkeit zu spüren, hatte Aurelios Gedanken und Gefühle wie die Bälle eines Jongleurs durcheinandergewirbelt. Gier. Das war es. Nichts anderes. Margherita hatte recht behalten. Er gierte danach, ihren nackten Körper zu berühren, ihre Pobacken unter seinen Händen zu spüren, ihr lustvolles Stöhnen zu hören, wie es honigsüß in sein Ohr tropfte.
    Er fragte sich noch, ob dies das Haus war, welches Margherita ihm beschrieben hatte, als er über sich ein Rascheln vernahm. Sie stand auf dem Balkon und lehnte sich gerade so weit über das Geländer, dass Aurelio ihr im Fackelschein loderndes Dekolleté erblickte. Er war nicht der Einzige. Vom Flussufer her pfiff jemand auf den Fingern. Ihr Kleid ließ sie aus dem Dunkel treten wie ein Engel. Der Westwind strich über den Tiber und streichelte den perlmuttfarbenen Stoff. Ihr Schattenriss auf der Fassade zitterte kaum merklich.
    Margherita beugte sich etwas weiter über das Geländer. Ihre weißen Zähne leuchteten auf. Begleitet vom Rascheln des Kleides, schwebte ihr Flüstern zu ihm herab. »Worauf wartest du?«
    Jetzt spreizte sie die Beine über ihm und senkte langsam ihr Becken. Als ihre Prinzessin, wie Margherita sie nannte, seinen Bigolo berührte, brach eine Flut von Gedanken in Aurelios Kopf los.
    »Nicht nachdenken«, flüsterte sie, umspielte sein Ohr mit der Zunge und legte seine Hände auf ihren Po, »das schadet nur.«
    Kurz darauf hatte Margherita seine Erregung so weit gesteigert, dass kein Platz mehr für irgendeinen Gedanken gewesen wäre, und als Aurelio schließlich in sie eindrang, war es wie damals, unter den Decken in der Scheune des Bauern, dessen Aue er vor dem Tod bewahrt hatte: der Sternenregen, der Herzschlag, den er bis in die Spitzen seiner Finger und Zehen spürte, der freie Fall beim Sprung über die Klippe, die weiche Landung in einem See aus Daunen, die schwerelose Leichtigkeit, die warme Trägheit.
    Versonnen strich Margheritas Hand über seine Brust. »Endlich hab ich dich wieder, mein kleiner Engel.«
    * * *
    Als Aurelio, die aufgehende Sonne im Rücken, über den Ponte Sant’Angelo schritt, erhob sich der Vatikan in der Ferne aus dem morgendlichen Dunst wie ein Geisterschloss. Schritt für Schritt wurde Aurelio von einem neuerlichen Glücksgefühl durchströmt. Bis er den Petersplatz mit seinen hundert schlafenden Marmorsäulen überquert hatte und in der Kapelle angelangt war, konnte er den neuen Tag voller Arbeit kaum erwarten. Noch bevor Piero auftauchte, würde er den fehlerhaften Arriccio abgeschlagen und den neuen Putz angerührt haben. So sorgfältig würde er ihn auftragen, dass Piero am Abend nirgends auch nur ein Blatt unter dem Kantholz durchschieben könnte. Letzte Nacht, in den Armen der schlafenden Margherita, hatte es plötzlich vor ihm gestanden, klar und deutlich. Er wusste jetzt, weshalb ihn seine Arbeit so mit Stolz erfüllte: Er war Teil von etwas, das größer war als er selbst. Zwei Sprossen auf einmal nehmend, stieg er die Leiter zum Gewölbe empor.
    Oben erwartete ihn, sehr zu seiner Überraschung, Michelangelo. Mit gekreuzten Beinen saß er auf der Bühne, vor sich seinen Skizzenblock. Vorwurfsvoll blickte er Aurelio an: »Wo bist du die ganze Nacht gewesen?«

XVII
    Gewissenhaft studierte Giuliano da Sangallo Michelangelos Entwürfe. Immer wieder wog der Architekt einzelne Zeichnungen gegeneinander ab und blätterte nachdenklich in dem dicken Skizzenbuch. Sie hatten sich um den Tisch versammelt, den der Bildhauer im Garten hinter der Sistina hatte aufbauen lassen – Rosselli, Sangallo, Aurelio und er. Michelangelo hatte seinen Florentiner Freund um Rat gebeten. Genaugenommen war es ein unausgesprochener Hilferuf gewesen, auch wenn er das nicht zugegeben hätte.
    In den vergangenen Wochen hatte sich Michelangelos Gemütsverfassung zusehens verdüstert. Phasen, in denen er auf alles und jeden schimpfte und ihm nichts recht zu machen war, wechselten mit solchen, in denen er, eingeschlossen in einer dunklen Wolke, über dem Skizzenblock brütete oder einfach nur auf einem Stuhl saß und stundenlang denselben, unbestimmbaren Punkt fixierte.
    »Zu viel schwarze Galle«, erklärte Piero, als handele es sich um eine unheilbare Krankheit, »immer schon.«
    Dann wieder

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