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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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gewann die cholerische Seite seines Meisters die Oberhand: »Warum geht das nicht schneller?«, rief er, kaum dass er zu ihnen auf das Gerüst gestiegen war. Dabei kamen sie mit der Arbeit besser voran, als Rosselli gehofft hatte. Mitte Juni bereits war die vordere Hälfte des Gewölbes mit einem neuen Arriccio versehen. Bei dem Tempo würden sie Ende Juli, Anfang August die Vorarbeiten abgeschlossen haben.
    » Caro fratello «, gab Piero zur Antwort, »wir arbeiten von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang.«
    »Es geht zu langsam voran!«, beharrte Michelangelo.
    »Wenn du willst, stelle ich weitere Gehilfen ein«, schlug Piero vor. Nicht zum ersten Mal.
    »Alles, nur das nicht! Die beiden Schnecken mit ihren Putzhämmern sind mir bereits ein Dorn im Auge. Ebenso gut kann ich meine Dukaten direkt in den Tiber werfen.«
    »Er hat Angst«, sagte Rosselli nachdenklich, als Aurelio und er während einer Pause im Schatten einer Platane des päpstlichen Gartens saßen, auf ihren Focaccie al formaggio kauten und dem Treiben auf der Baustelle für Neu-St.-Peter zusahen, die inzwischen jedes Maß verloren zu haben schien. Um die Mittagszeit staute sich die Hitze unter dem Gewölbe der ansonsten angenehm kühlen Kapelle, und der Geruch nach faulen Eiern, der dem Arriccio entströmte, wurde unerträglich. »Er hat Angst, eine neuntausend Quadratfuß große Fläche vor sich zu haben und nicht zu wissen, wie er sie füllen soll. Und er hat Angst, den technischen Anforderungen nicht gewachsen zu sein.«
    Aurelio konnte sich nicht vorstellen, dass es irgendetwas gab, dem sich sein Meister als Künstler nicht gewachsen glaubte. »Und was denkst du?«
    »Ich denke, es wird Zeit, dass Francesco und die anderen kommen.«
    Rosselli hatte recht. Die Marmorblöcke auf dem Petersplatz verwittern lassen zu müssen quälte seinen Meister ebenso wie der Entwurf für das Fresko. Er trat auf der Stelle. Je krampfhafter er versuchte, sich an Julius’ Vorgaben zu halten, umso größer wurde sein Widerwillen. Als Folge davon verbrachte er mehr und mehr Zeit in der Kapelle. Oft hörte Aurelio ihn bereits vor Sonnenaufgang das Haus verlassen. Dann trafen sie ihn bei Arbeitsbeginn auf der Bühne an, im Schneidersitz, einen Kohlestift in der Hand, vor sich einen Skizzenblock. Erst der Gestank des frisch angerührten Arriccio, von dem es hieß, er sei der Gesundheit abträglich, vertrieb ihn im Laufe des Vormittags vom Gerüst.
    Den Zimmermann wies er an, im Garten hinter der Kapelle einen provisorischen Tisch zu errichten, an dem sechs Zeichner gleichzeitig Platz hätten. Anschließend fertigte er von den wie Segel geformten Stichkappen oberhalb der Fenster, in denen die Apostel ihren Platz finden sollten, Papiervorlagen in Originalgröße an. Die breitete er auf der Bühne aus, einzig zu dem Zweck, sie mit Flüchen zu belegen.
    * * *
    Sangallo brütete so lange über den Entwürfen, dass Michelangelo seine Ungeduld nicht länger beherrschen konnte und ihm das aufgeschlagene Skizzenbuch unter den Händen wegzog.
    Er deutete auf die aufgeschlagene Seite: »Kreise, Quadrate, Kegel …« Wahllos blätterte er weiter. »Sechsecke, Achtecke, Trapeze …« Nicht viel, und er hätte das Buch vor Ekel vom Tisch gestoßen. »Es ist und bleibt eine cosa povera «, stellte er resignierend fest.
    »Mindestens ein Dutzend Eurer Entwürfe würden den Papst mehr als zufriedenstellen«, antwortete Sangallo ruhig.
    »Sangallo«, Michelangelos Hände tasteten nach etwas, das ihnen Ersatz für Schlägel und Eisen hätte sein können. Am Ende kratzten sie mit einem Rötelstift auf dem Tisch herum. »Wenn ich etwas will, das mich zufriedenstellt, dann gehe ich zum Portico und kaufe mir einen Fisch. Ihr kennt mich lange genug: Als Künstler werde ich mich niemals mit etwas abfinden, das zufriedenstellt. Zufriedenstellen ist zu wenig. Viel zu wenig!«
    Sangallo blätterte nachdenklich im Skizzenbuch. »Dann bittet Julius um eine Audienz. Legt ihm einen neuen Entwurf vor. Sagt ihm, was Ihr mir gesagt habt: dass aus seinen Plänen nur eine arme Sache entstehen kann.«
    Aurelio mochte Sangallo und seine besonnene Art vom ersten Augenblick an. Dabei hätte man den Architekten aus etwas Distanz für einen kleinen Bramante halten können. Er war nicht nur ebenso alt wie sein Konkurrent, auch schien er seine Kleider beim selben Schneider fertigen zu lassen: das gleiche Barett, die gleiche Vorliebe für schwere, schwarze Samtstoffe. Der einzige Kleidungsunterschied bestand darin,

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