Der Sixtinische Himmel
Auftrag, das Gewölbe dieser Kapelle mit einem neuen Fresko zu versehen.«
Die Spitze von Julius’ gefürchtetem Stock krachte auf den Boden. Nachdem das Echo verklungen war, hätte man einen Putzkrümel von der Decke fallen hören können. Aurelio und Rosselli blickten sich an.
»Maestro Buonarroti«, bemühte sich der Papst um einen versöhnlichen Ton, »wie lange werden die derzeitigen Arbeiten noch andauern?«
»Ihr meint: vorausgesetzt, wir können ungestört mit ihnen fortfahren?«
»Erspart uns Eure Pedanterie, Buonarroti! Ihr wisst, was ich meine.«
»Drei Wochen«, sagte Michelangelo.
Rosselli sah zu den beiden Gehilfen hinüber. Der eine nickte, der andere schüttelte den Kopf.
»Das bedeutet«, überlegte Julius, »die Assumptio Mariae könnte ohne Hämmern an der Himmelspforte vonstattengehen?«
»Ganz bestimmt«, versicherte Michelangelo.
De’ Grassi war es unmöglich zu warten, bis der Papst ihn zum Sprechen aufforderte. »Heiliger Vater«, platzte es aus ihm heraus, »ich fühle mich verpflichtet, Euch nachdrücklich an die Verträge zu erinnern, in denen festgehalten ist, dass die Arbeiten am Gewölbe derart vorzunehmen sind, dass die Durchführung der Zeremonien in keiner Weise behindert wird.«
Julius zwirbelte seinen Stock zwischen den Fingern. Für einen Moment war völlig unklar, in welche Richtung das päpstliche Pendel ausschlagen würde. Ein nicht zu deutendes Lächeln schien seine schmalen Lippen noch schmaler zu machen. Schließlich hielt er die Nase in die Luft, als spüre er einem Duft nach.
»Habt Ihr es bemerkt, de’ Grassi?«
Der Zeremonienmeister tat es ihm nach und hob seine Nase, so weit sein eng geknöpfter Kragen dies zuließ. »Eure Heiligkeit?«
»Ihr habt soeben Euren Befugnisbereich übertreten.«
Augenblicklich senkte de’ Grassi sein Haupt und trat einen Schritt zurück. Er deutete eine Verbeugung an. »Wie Ihr meint, Eure Heiligkeit.«
Rosselli stieß Aurelio in die Seite. Er war kein Mann von Schadenfreude, aber de’ Grassi klebte seit Wochen wie Hundekot an seinem Schuh, und die Hälfte seiner Kopfschmerzen, so hatte er Aurelio erst vor zwei Tagen zugeraunt, habe er dem päpstlichen Erbsenzähler zu verdanken.
»Mein teurer Buonarroti«, schloss Julius, »ich verlasse mich darauf, dass in drei Wochen Ruhe einkehrt, damit Maria ungestört zum Himmel auffahren kann.«
»Ich danke Euch.«
Der Papst und sein Zeremonienmeister hatten bereits den Ausgang erreicht, als Michelangelo den Mut aufbrachte, zu sagen: »Eure Heiligkeit?«
Julius fuhr herum: »Wer hat Euch gestattet, mich hinter meinem Rücken anzusprechen!?«
Michelangelo umklammerte mit beiden Händen sein Skizzenbuch und setzte demütig ein Knie auf den Boden: »Verzeiht, Eure Heiligkeit.«
»Hm.«
»Eure Heiligkeit, es ist …«
Julius schien zu spüren, dass es echte Sorge war, die Michelangelo das Wort ergreifen ließ. »Ja?«
»Gewährt mir eine kurze Audienz.«
»Eine Audienz?«
Mit jedem Wort sank das Haupt des Bildhauers etwas tiefer. »Unter vier Augen.«
»Unter vier Augen?«
»Jetzt.«
De’ Grassi sah aus, als wittere er eine Intrige göttlichen Ausmaßes. Julius stützte sich auf seinen Stock und atmete zweimal tief durch. Dann wandte er sich an seinen Zeremonienmeister: »De’ Grassi, ich habe Euch lange genug von Euren Aufgaben ferngehalten.«
* * *
Michelangelo stand mit ausgebreiteten Armen im Zentrum der Kapelle und richtete den Blick zum Gewölbe empor, als habe sich die Himmelspforte für ihn geöffnet. »Tut, was Euch beliebt.« Seine bei Wasser und Brot gehaltene Phantasie hatte mit einem Satz des Papstes mehr Nahrung erhalten, als sie in Wochen zu verdauen in der Lage sein würde. Zum ersten Mal schien ihm die Sistina nicht nur Last und Fluch und Strafe zu sein, sondern Hoffnung und Freude, ein Reich unbegrenzter Möglichkeiten. »Tut, was Euch beliebt«, hatte Julius gesagt. Und im Hinausgehen: »Überrascht mich!«
Mit jedem Atemzug nahm das Gewölbe eine neue Gestalt an, plötzlich war es von Menschen bevölkert, von Figuren aus der Bibel, Sibyllen, Propheten. Szenen aus dem Alten Testament kamen Michelangelo in den Sinn, die Sintflut … Warum nicht? Alles war möglich. Die Übermacht der Bilder, die beim Anblick des Gewölbes auf den Künstler einstürmten, war für ihn selbst nicht mehr zu greifen. Lange stand er so, die Arme ausgebreitet, den Blick zum Gewölbe erhoben, und ließ die Früchte seiner Phantasie auf sich niederregnen. Schließlich
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