Der Sixtinische Himmel
Zweifel. Er war ein ehrlicher Mann gewesen, den Aurelio niemals eine Sünde hatte begehen sehen. Und für seine Mutter galt das Gleiche. Doch was war mit ihm, Aurelio selbst? Was war mit den Gedanken, die ihn verfolgten, seit er Aphrodite im Circus Agonalis gesehen hatte, was war mit den Bildern und Visionen, die er nicht einmal in Worte hätte fassen können? Und was war mit Margherita und ihren wöchentlichen Treffen? Rom hatte Begierden in Aurelio entfacht, die er nie zuvor gekannt hatte.
Er hatte begonnen, sein Geld zu zählen. Je mehr er davon besaß, umso häufiger zählte er es. War das Habgier? Hatte es ihm je an etwas gemangelt? Und dann diese unzüchtigen Gedanken. Den ganzen Tag wurde er von ihnen verfolgt, nachts dann holten sie ihn ein. Gut, bereits als Kind hatte er sich vorgestellt, wie Caterina Sforza auf der Mauer der Zitadelle ihre Röcke gehoben und ihre Scham entblößt hatte. Das war schlimm genug gewesen. Doch es war nichts im Vergleich zu dem, was Margherita mit ihm anstellte, und noch weniger im Vergleich zu dem, was er sich mit Aphrodite erträumte und was ihm so wirklich erschien, dass er nachts keuchend und schweißüberströmt mit pochendem Glied aufschreckte. Nein, Aurelios Gebete galten nicht seinem Vater. Er wusste, wenn Tommaso diese Stadt und seinen Sohn darin hätte sehen können – er wäre niemals einverstanden gewesen. In seinen Augen hätte nichts in Rom das menschliche Maß respektiert. Aus diesem Grund bat Aurelio ihn um Vergebung. Nicht Gott. Die Vergebung seines Vaters war ihm wichtiger als die von Gott.
XXIII
Von allen Plätzen, die er überquert, von allen Orten, die er gesehen hatte, war Aurelio die Mulde zwischen den Wurzeln der großen Platane im Garten des Vatikans der liebste. Den Rücken gegen den kühlen Stamm gelehnt, hatte er hier während der stickigen Sommermonate unbehelligt seine Pausen verträumt und sich dennoch im Mittelpunkt der Welt befunden. Seiner Welt. Er mochte die wechselnden Gerüche. Bei Südwind haftete der heißen Luft der Geschmack der Großbaustelle an: geschliffener Travertin, Marmor, frisch geschnittenes Holz und feuchter Kalk. Kam er von Norden, war er kälter und trug den Geruch von Pinien, Zedern, Orangen- und Zitronenbäumen mit sich.
An die Gerüche, die diese Stadt sonst beherrschten, würde sich Aurelio niemals gewöhnen. Auf ihrem Hof bei Forlì hatte es nur natürliche Gerüche gegeben. Mit ihnen war Aurelio aufgewachsen. Weizen, Äpfel, Stroh, Lehm, der grüne, fleischige Duft reifer Oliven, der Trog vor dem Haus, der im Sommer nach Feuerstein roch. Natürlich hatte es auch nach Pferdeäpfeln und Katzenpisse gerochen, niemals aber nach Eiter, Gedärm, verfaultem Fleisch, Krankheit, Elend und Tod. Manchmal kam es Aurelio vor, als würde diese Stadt vor allem das Schlechte im Menschen zum Vorschein bringen.
Mehr noch als die Gerüche mochte Aurelio das, was er von hier aus sah: Veränderung. Sie gab ihm das Gefühl, am Lauf der Welt teilzuhaben. Von der kleinen Erhebung im Schatten der leoninischen Mauer aus, umgeben von sattem Grün, schattenspendenden Pinien, hochaufragenden Palmen und symmetrisch beschnittenen Zypressen, konnte er mit seinem Blick den gesamten Vatikan einfangen – vom höher gelegenen Belvedere-Palast, in dem Bramante residierte, bis hinüber zur Baustelle von Sankt Peter, über der die schreienden Möwen kreisten wie über der Ripa Grande.
Michelangelo und er hatten sich die Baustelle von Neu-St. Peter angesehen, als sein Meister ihm die Pietà gezeigt hatte. Ein Platz, so groß wie ein ganzes Dorf. Und mit jedem Tag verschlang er ein weiteres Stück des päpstlichen Gartens. Als Michelangelo ihm beschrieb, welchen Grundriss die künftige Kirche einmal haben sollte, scheiterte Aurelio an seiner Vorstellungskraft. Ein Raum von derartigen Dimensionen … Ein ungreifbares Unbehagen erfüllte ihn. Konnte es wirklich Gottes Wille sein, dass man ihm ein solches Monument schuf? Es war, als sollte der Mensch zu seinem Glauben gezwungen werden. Wollte Gott den Menschen unterwerfen? Oder ging es am Ende gar nicht um Gott?
Doch nicht nur an der Petersbasilika wurde gebaut. Die Arbeiten an den beiden langgestreckten Belvedere-Korridoren waren ebenfalls noch nicht abgeschlossen, und der Papstpalast wucherte wie eine Pflanze von innen heraus. Niemand schien vorhersagen zu können, welche Form er in den kommenden Jahren annehmen würde. Das einzige in sich ruhende Bauwerk, das von dem Trubel um sich herum unberührt
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