Der Sixtinische Himmel
.« Piero besah sich den Handkarren, der in einer Ecke stand und in dem seit Tagen alles bereitlag, was sie für das Fresko benötigen würden – abgesehen von den Säcken mit Kalk und Vulkanasche, die sie bereits vorgestern mit den Seilwinden auf die Arbeitsbühne gezogen hatten. Piero wollte schon bejahen, besann sich jedoch anders. »Ich gehe die Liste noch mal durch.«
»Tu das.«
Bis die Bottega mit Michelangelo an der Spitze zum Vatikan aufbrach, wurde kaum ein Wort gewechselt. Selbst der sonst fröhlich-polternde Granacci schwieg beharrlich und knetete stattdessen seine Hände. Rosselli zog den Karren, Bastiano trug den zusammengerollten Karton, den er gestern in stundenlanger Arbeit mit einer Nadel perforiert hatte. Dabei umfasste er ihn mit beiden Händen und hielt ihn eng am Körper, als sei er aus Glas und drohe, bereits bei geringfügiger Erschütterung in tausend Teile zu zerspringen.
Der Karton war für einen Freskanten »der letzte Zufluchtsort«, wie Agnolo es ausgedrückt hatte. »Danach musst du entweder springen, oder du bleibst für immer in deiner Höhle.« Bei diesen Worten hatte sich Agnolos Blick verklärt.
Aurelio erinnerte sich daran, was Piero ihm erzählt hatte: dass Agnolo kaum jemals etwas zu Ende brachte, weil er beständig an seinen eigenen Ansprüchen scheiterte. Agnolo musste also wissen, wovon er sprach. Offenbar hatte er den größten Teil seines künstlerischen Lebens in Höhlen zugebracht.
War ein Entwurf so weit gereift, dass man die Ausführung des Freskos in Angriff nehmen konnte, wurde er in einzelne Giornate zerlegt – Tagewerke. Von jeder Giornata wurde dann ein Karton – eine Zeichnung in Originalgröße – erstellt, die als Vorlage für den an diesem Tag zu bewältigenden Malabschnitt diente. Sobald der Intonaco aufgetragen und angetrocknet war, wurde der Karton mit speziellen Nadeln auf dem Untergrund befestigt, und man übertrug die Linien der Zeichnung auf den Putz. Hierfür gab es zwei Methoden. Die einfachste und schnellste war, mit einem feinen Stift die Linien nachzuziehen, so dass im noch feuchten Putz winzige Rillen sichtbar blieben. Die exaktere, aber sehr viel aufwendigere Methode bestand darin, den Karton entlang der Linien mit Hunderten kleiner Nadelstiche zu perforieren und ihn dann zu »pudern«. Hierbei klopfte man mit Hilfe von mit Kohlenstaub gefüllten Säckchen die Zeichnung ab, so dass sich die Linien auf den Intonaco übertrugen.
Michelangelo, der mit der Freskenmalerei nicht vertraut war, wollte jedes vermeidbare Risiko ausschließen. Ein Durchdrücken der Vorzeichnung mit dem Stift kam nicht in Frage. Also hatte Bastiano den gesamten gestrigen Nachmittag damit zugebracht, den ersten Karton für die Sistina zu perforieren.
* * *
Je näher sie den Mauern des Vatikans kamen, desto nervöser wurde Michelangelo. Er versuchte nicht einmal mehr, sein Unbehagen zu verbergen. Niemand sagte etwas. Jedes Wort wäre das falsche gewesen. Agnolo schien mit seinem Vergleich ins Schwarze getroffen zu haben: Monatelang hatte sich Michelangelo in die Höhle seiner Imagination zurückgezogen und Zuflucht in seinen Zeichnungen gesucht. Jetzt, heute, hier, musste er hinaus und den Sprung wagen.
Glücklicherweise bekam Michelangelos Überreiztheit Gelegenheit, sich zu entladen, bevor sie ans Werk gingen. Sie hatten soeben die Wachen der Schweizergarde passiert, als sie sahen, wie Morosina, eine stadtbekannte Kurtisane mit zweifelhaftem Ruf (sie galt als allen Neigungen gegenüber aufgeschlossen), eine im Schatten des Papstpalastes wartende Kutsche bestieg. Der Mann, der ihr dabei die Hand reichte und den seidengefütterten Umhang hielt, war kein Geringerer als Paris de’ Grassi. Mit herablassender Geste drückte er dem Kutscher eine Münze in die Hand. Als sich der Wagen daraufhin in Bewegung setzte, vollführte de’ Grassi eine Verbeugung, die so aussah, als versuche er, mit der Nase sein Knie zu berühren.
»Das nenn ich ›Demut vor der Schöpfung‹«, flüsterte Granacci.
Es waren die ersten Worte, die fielen, seit sie das Haus verlassen hatten.
Erst jetzt bemerkte de’ Grassi Michelangelo und sein Gefolge. Er richtete sich auf, als habe er etwas vom Boden aufgelesen. »Maestro Buonarroti!« Sein Rückgrat war steifer denn je. »So früh unterwegs?«
Michelangelo warf der vorbeifahrenden Kutsche, in der Morosina saß wie in Wachs gegossen, einen ausgedehnten Blick nach. Erst dann wandte sich der Künstler wieder de’ Grassi zu. »Ihr werdet
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