Der Sixtinische Himmel
Nichts starrte. Ein Jaguar.
Der Mann war blind. Wahrscheinlich war er geblendet worden. Es gab eine Methode, bei der dem zu Blendenden ein glühendes Eisen vor die Augen gehalten wurde. Die Hitze zerstörte das Auge, ohne sichtbaren Schaden zu hinterlassen. Es hieß, die Schmerzen seien ein Vorgeschmack auf das Fegefeuer.
»Wem gehört er?«, fragte Aurelio.
Der Blinde schwieg. Der Sehende drehte seinen Kopf kaum merklich und deutete mit dem Kinn Richtung Papstpalast. Aphrodite. Der Jaguar gehörte Aphrodite. Wieder knurrte der Sehende etwas. Aurelio verstand es nicht, aber die Raubkatze stieg folgsam aus dem Brunnen, sprang vom Rand und schüttelte sich. Der Mann hat keine Zunge, ging es Aurelio durch den Kopf. Der eine war geblendet, dem anderen war die Zunge herausgeschnitten worden.
»Arrivederci«, sagte der Blinde.
»Arrivederci«, antwortete Aurelio.
Sie überquerten den Hof und verschwanden durch denselben Bogen, durch den sie den Cortile betreten hatten. Als Aurelio aufblickte, war die Hand verschwunden, und der Vorhang verdeckte wieder vollständig die Fensteröffnung. Und dennoch spürte Aurelio ihren Blick auf sich ruhen. Abwesend griff er nach seinem Hemd, das noch immer auf dem Rand des Brunnens lag, und streifte es über.
XXIV
Niemals hatte Aurelio seinen Meister nervöser gesehen als am Morgen des vierten Oktober, dem Tag des ersten Pinselstrichs. Es war der Namenstag Franz von Assisis.
»Ein guter Tag«, wie Michelangelo hoffte, schließlich war der Heilige ein demütiger Mann gewesen. Und Demut würden auch sie brauchen.
Bereits am Vorabend, als die letzten Vorbereitungen getroffen wurden, hatte der Bildhauer mit seiner nicht mehr zu bezähmenden Erregung die gesamte Bottega angesteckt – sogar Rosselli und Granacci, der sich, wenn er nicht gerade Rotwein trank, mit einem Griffelstil unsichtbaren Dreck unter den Fingernägeln herausgekratzt hatte. Nur Tedesco, der in dem Fresko niemals etwas anderes erblicken würde als bezahlte Arbeit, blieb von Michelangelos Anspannung unberührt.
Die ganze Nacht hindurch hatte Aurelio seinen Meister über sich umhergehen hören. Bei Sonnenaufgang, pünktlich zu den Laudes, waren dann die ersten Schritte aus dem Vorraum zu vernehmen. Es waren jedoch nicht die Michelangelos, wie Aurelio am Gang erkannte, sondern die Rosselis. Die Haustür wurde geöffnet. Aurelio stand auf.
Piero war auf die Straße getreten. Wie Aurelio trug auch er nichts als sein Nachthemd. So stand er im Morgenlicht und beschnupperte die Luft. Die letzten Monate hatten ihn altern lassen. Seine Augen, die er beim Verputzen über Kopf ständig zusammenkneifen musste, waren um zwei tiefe Falten reicher geworden. Innerhalb von nur drei Monaten hatten sie ein riesiges Gerüst gebaut und angebracht, ein sechstausend Quadratfuß großes Fresko abgeschlagen und auf die gesamte Fläche einen neuen Arriccio aufgetragen. Piero war müde und erschöpft, bevor die eigentliche Arbeit begonnen hatte. Seine Augen jedoch funkelten den in der Tür stehenden Aurelio spitzbübisch an. Er winkte ihn zu sich.
Aurelio trat barfuß und im Nachthemd auf die Straße. Gemeinsam richteten sie ihre Blicke nach Osten, wo sich der Passetto zur Engelsburg hinüberschlängelte, über deren Zinnen soeben die Sonne aufging. Der Himmel war von einem makellosen, unverbrauchten Blau. Der erste Devotionalienhändler schloss seinen Laden auf. Pilger waren Frühaufsteher. Zwei sich misstrauisch beäugende Katzen durchstöberten einen Haufen Küchenabfälle. Aurelio spürte, dass es mehr als nur gegenseitiger Respekt war, der in den vergangenen Monaten zwischen Piero und ihm gewachsen war. Es war Freundschaft. Als Kind hatte sein Vater ihm erklärt, dass es nur zwei Dinge im Leben gab, die wirklich von Wert waren: Familie und Freundschaft. Auf seine Art, dachte Aurelio jetzt, war Tommaso ein weiser Mann gewesen.
»Und?« Piero riss ihn aus den Gedanken.
Aurelio schloss die Augen. »Ostwind.«
»Nicht zu warm und nicht zu kalt, nicht zu trocken und nicht zu feucht.«
Aurelio schmunzelte. »Ein guter Tag, um mit dem Fresko zu beginnen?«
Jetzt schmunzelte auch Piero. »Sagen wir so: Wenn etwas schiefgeht, lag es nicht am Wetter. Gott hat uns seinen Segen gegeben. Nun ist es an uns, ihn nicht zu enttäuschen.«
Als sie wieder hineingingen, stieg Michelangelo gerade die Stufen herab. Seiner Rastlosigkeit vom Vorabend hatte sich eine Gereiztheit hinzugesellt. »Piero: Haben wir alles?«
»Guten Morgen, caro fratello
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