Der Sixtinische Himmel
Atelier hinauf in seine Kammer geflohen, wo er stundenlang auf und ab ging. Er kämpfte verzweifelt gegen seine eigene »Obsession«, wie Bastiano es eines Abends nannte, als er mit seinem Bettgenossen über das Fresko sprach.
Aurelio empfand die Worte Bastianos als Herabwürdigung seines Meisters. »Ich dachte, du hättest in der Schlacht von Cascina die Zukunft der Malerei erblickt«, entgegnete er. Aurelio wusste, das Bastiano den Karton nicht nur kopiert hatte, sondern dass er ihm auch Anlass gewesen war, seinem Lehrmeister Perugino den Rücken zu kehren.
Nun war es Aurelio, dem Bastiano den Rücken zuwandte. Er hatte ihm weder einen Friedensschluss angeboten, noch hatte er ihm nach dem Vorfall mit dem eingebrannten Loch ein neues Hemd gekauft. Dennoch hatte sich die Situation zwischen ihnen entspannt, seit Michelangelo bei der Planung der Scheinarchitektur, die das Fresko später gliedern sollte, verstärkt Bastiano hinzugezogen hatte. Zudem gehörte der Bottega seit einigen Wochen ein Laufbursche an, ein Fattorino, der jetzt die niederen Dienste verrichtete. Wie die anderen stammte auch er aus Florenz und hatte Aurelio als jüngstes Mitglied der Gemeinschaft abgelöst. Er hieß Beato und war nach eigenen Angaben dreizehn. Doch er war Waise. Niemand kannte seinen wahren Namen und sein wahres Alter.
»Wäre die Schlacht von Cascina zur Ausführung gelangt«, erklärte Bastiano mit dem Gesicht zur Wand, »hätte das für die Kunst eine neue Zeitrechnung bedeutet: vor und nach Cascina. Kein Künstler hätte weitermachen können wie bisher.« Er rückte sich das Kopfkissen zurecht. »Was nichts an Michelangelos Obsession ändert.«
»Was ist mit den Frauen?«, wollte Aurelio wissen.
»Bei der Schlacht von Cascina war keine dabei.«
»Ich meine die, die für das Fresko der Sistina vorgesehen sind.«
»Sieh dir die Entwürfe an: Es werden Männer sein, mit Brüsten.«
* * *
Das wahre Ausmaß der Mühen, die der Bottega bevorstanden, begriff Aurelio erst am Morgen des vierten Oktober, als sie endlich das eigentliche Fresko in Angriff nahmen. Dabei hatte Piero ihm alles genau erklärt: Aus Kalk, Wasser und Sand wurde der Intonaco angemischt. Sobald der die richtige Konsistenz hatte, wurde die für diesen Tag vorgegebene Fläche damit verspachtelt. Anschließend übertrug man die Linien des Kartons auf den Putz. Schließlich musste man nur noch die zerriebenen Farbpigmente in Wasser auflösen, und der Künstler konnte mit der Arbeit beginnen. Das klang einerseits nach viel Arbeit, andererseits schienen Aufwand und Risiken überschaubar zu sein.
Jetzt, auf dem Gerüst, zeigte sich jedoch, das bereits die Herstellung des Intonaco sehr viel komplizierter war als von Aurelio angenommen. Die Kunst bestand darin, den Marmor erst zu Pulver zu machen, um das Pulver anschließend wieder in Marmor zu verwandeln. Und während das geschah – während der Putz trocknete und der Kalk wieder zu Stein wurde –, mussten die Farben eingebracht werden. Dann waren sie für immer darin eingeschlossen. Der Ätzkalk, der zu Pulver gebrannte Marmor, war also die Substanz, von der alles abhing. Sobald der Intonaco getrocknet war, nahm er keine Farben mehr an. Am folgenden Tag Korrekturen anzubringen, war unmöglich.
Piero behandelte die Säcke mit Ätzkalk, die auf der Arbeitsbühne standen, als enthielten sie lebende Skorpione. »Er zersetzt die Haut«, warnte er seinen Gehilfen. »Wenn du eine Leiche damit bestreust, sind schnell nur noch die Knochen übrig. Reibst du dir etwas davon in die Augen, wirst du das fertige Fresko niemals sehen.« Er maß zwei Sester ab und füllte sie in einen Eimer. »Und jetzt pass auf.« Vorsichtig goss er eine halbe Kanne Wasser hinzu. Sofort begann das Gemisch zu zischen und zu brodeln. Wie kochende Milch stieg es den Rand des Eimers empor. Nach einer Weile beruhigte es sich wieder. »Leg mal deine begabten Hände an den Eimer«, forderte Piero ihn auf.
Aurelio setzte ein Knie auf den Boden und legte seine Hände an den Eimer. Er war heiß!
Piero kniete sich ebenfalls auf die Bühne und begann, mit einer Setzschaufel das Gemisch umzurühren. »Es müssen sich alle Klumpen aufgelöst haben, bevor der gelöschte Kalk zur Ruhe kommt. Sonst kannst du von vorne anfangen.« Aurelio ahnte, welche Aufgabe Piero ihm und seinen »begabten Händen« zugedacht hatte. Bereits bei dem Arriccio hatte er großes Geschick bewiesen. Rosselli arbeitete sehr sorgfältig, bis sich die Masse abgekühlt und die
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