Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
Vom Netzwerk:
»Keine Hoffnung?«
    »Nur für Noah«, gab Michelangelo zur Antwort.
    Entgegen Sangallos Vermutung hatten der Papst und sein Hoftheologe Giovanni Rafanelli den Entwurf für das Fresko gebilligt. Sangallo hatte Michelangelo halb mitleidig, halb wissend gemustert, als der ihm davon berichtete. Es konnte nicht sein. Papst Julius, gut, der würde über vieles hinwegsehen, sofern er sich für die Idee begeistern könnte. Giovanni Rafanelli jedoch, der zur Zeit das Amt als »Meister des geheiligten Palastes« innehatte, niemals. Gegen den Dominikanerpater war selbst Jesus ein Heide.
    Rafanelli war klein, untersetzt und trug einen Bart, hinter dem sein Gesicht kaum zu erkennen war. Lediglich die schwarzen Augen blitzten von Zeit zu Zeit unter der Kutte hervor. Jeder, der in der Sixtinischen Kapelle predigen wollte, hatte seinen Text von ihm auf kritische Stellen untersuchen zu lassen. Er ging, als hätte er ein Holzbein, was aber nicht der Fall war. Von dem, was er sagte, blieb stets die Hälfte in seinem Bart hängen. Überhaupt bellte er mehr, als er sprach. Wenn man nachzufragen wagte, schnappte er nach seinem Gegenüber wie ein Hund. Insofern machte er dem Spitznamen der Dominikaner – domini canes , Hunde des Herren – alle Ehre. Niemand auf dem vatikanischen Hügel wachte schärfer über Gottes Wort als Rafanelli. Und ausgerechnet der sollte sich mit Dutzenden vollständig entblößter Leiber und den heidnischen Vorfahren Christi einverstanden erklärt haben?
    »Gott hat mir seinen Segen gegeben«, erklärte Michelangelo, als er die Zweifel im Gesicht seines Freundes nicht länger ertragen konnte.
    »Wollen wir hoffen«, erwiderte Sangallo, »dass Gott es bei dieser Gelegenheit nicht versäumt hat, auch seine Wachhunde davon in Kenntnis zu setzen.«
    Aurelio spürte den Groll, den die Worte des Freundes bei seinem Meister hervorriefen. Sangallo wollte es immer allen recht machen. Als Architekt verstand er sich vor allem als Dienstleister. Darin sah er seine Aufgabe: andere zufriedenzustellen. Zugeständnisse hier, Zugeständnisse da, Hauptsache, die Auftraggeber waren zufrieden. Was am Ende blieb, war oft genug nur Mittelmaß. Ein schönes, ansehnliches Mittelmaß, aber dennoch … Michelangelos Schultern spannten sich wie der Bogen einer Armbrust. Als Künstler, das war seine Überzeugung, konnte man es nicht jedem recht machen. Und sollte es gar nicht erst versuchen.
    »Glaubt, was Ihr wollt«, sagte er.
    Sangallos Blick war der eines Mannes, der aus der Erfahrung eines langen Lebens wusste, wann künftiges Unheil drohte. Und der aus derselben Erfahrung heraus wusste, wann es nicht mehr abzuwenden war.
    Wenige Tage später erfuhr Aurelio, dass neben Sangallos Bedenken noch ein weiterer Grund Michelangelos Unmut hervorgerufen hatte. Sangallo hatte seinen Florentiner Freund durchschaut. Er kannte ihn einfach zu lange und zu gut. Niemand wusste es, außer Michelangelo selbst, Granacci und jetzt, da Michelangelo ihm den Entwurf gezeigt hatte, Aurelio: Der Entwurf, den der Künstler Papst Julius und seinem Hoftheologen präsentiert hatte, hatte nur die halbe Wahrheit enthalten. Sangallo hatte den Betrug gewittert. Die zwanzig Ignudi sowie all die anderen nackten Gestalten, denen die künstlich geschaffene Architektur mit ihren Gesimsen, Streben, Pilastern und Nischen als Bühne dienen sollte, waren verschwunden. Außer bei der Sintflut, dem Sündenfall, der Erschaffung Evas und der Erschaffung Adams kamen keine nackten Körper mehr vor. Und dass Adam und Eva bei ihrer Erschaffung nackt gewesen waren, hatte nicht einmal Rafanelli bestreiten können.
    »Aber was wird geschehen, wenn die Wahrheit ans Licht kommt?«, fragte Aurelio. »Wird der Heilige Vater Euch nicht … Ich weiß nicht …«
    »Ich auch nicht, Aurelio. Am Ende ist es gleichgültig, wie er reagieren wird. Vielleicht lässt er mich in Festungshaft nehmen und alles wieder abschlagen oder, noch schlimmer, von Raffael mit Madonnen übermalen. Aber was hilft das: Ich muss tun, was ich tun muss. Niemand scheint das zu verstehen. Ich kann nicht einfach etwas anderes machen.«
    Nicht erst seit diesem Tag wusste Aurelio, dass sein Meister besessen war – von nackten, muskulösen Männerkörpern. Er hatte den Karton der Schlacht von Cascina nie gesehen, doch das war auch nicht nötig. Nachdem Aurelio begonnen hatte, Michelangelo Modell zu stehen, war es ihm schnell klargeworden. Immer wieder hatte Michelangelo Griffel und Stift niedergelegt und war aus dem

Weitere Kostenlose Bücher