Der Sixtinische Himmel
doch nicht etwa das Morgengebet versäumt haben?«
Bei dem Versuch, seine Autorität als Zeremonienmeister zu wahren, reckte de’ Grassi den Kopf wie ein Hahn. »Ihr solltet besser auf Eure Worte achten, Herr Buonarroti. Der Heilige Vater …«
»Und Ihr solltet besser auf Eure Gedanken achten, Herr de’ Grassi«, schnitt Michelangelo ihm das Wort ab. »Sie sind der Beginn Eurer Taten.«
De’ Grassi war wie vom Donner gerührt. »Ich muss Euch warnen, Buonarroti. Steckt Eure Nase nicht in fremde Angelegenheiten.«
»In Eurem Fall«, entgegnete Michelangelo und bedeutete Rosselli, dass sie weitergehen würden, »ist es wohl kaum die Nase, um die Ihr Euch sorgen solltet.«
De’ Grassi verschlug es die Sprache.
Michelangelo setzte seinen Weg zur Kapelle fort. Die anderen folgten ihm. Im Vorbeigehen fügte er hinzu: »Und vergesst nicht, den Gulden ordnungsgemäß zu verbuchen, mit dem Ihr den Kutscher zum Schweigen verpflichtet habt.«
Die Genugtuung, ausgerechnet de’ Grassi in einer derart kompromittierenden Situation ertappt zu haben, währte nicht lange. Sobald sie die Kapelle betraten, schienen sich die Stoffbahnen, mit denen die Arbeitsbühnen abgehängt waren, wie riesige Leichentücher auf sie herabzusenken. Hatte Michelangelo einen Marmorblock vor sich und hielt Schlägel und Eisen in Händen, kehrten Ruhe und Klarheit in ihn ein wie bei einem Sedimentglas, wenn sich die Teilchen absetzten und reines Wasser zurückließen. Jetzt jedoch, da er das Gewölbe mit Pinsel und Farbe zum Leben erwecken sollte, kam er sich vor wie ein Esel bei einem Pferderennen. Während die anderen Pinsel, Eimer, Kellen und Pigmente hinaufbrachten und Rosselli den Intonaco vorbereitete, ging Michelangelo nachdenklich in der Kapelle umher. Immer wieder blieb er stehen und legte den Kopf in den Nacken.
»Gib mit Kraft, Herr«, flüsterte er. »Und Ausdauer.«
Dann ging er ins abgeteilte Sancta Sanctorum – den Teil der Kapelle, der den Mitgliedern des Sixtinischen Chores vorbehalten war –, kniete sich vor den Altar und begann zu beten. Die anderen hatten sich auf dem Gerüst versammelt, standen im Kreis und warteten. Irgendwann füllte Bastiano eine Handvoll Azurit-Pigmente in einen Mörser und fing an, sie vorsichtig mit dem Stößel zu zerreiben.
* * *
Was Michelangelo dazu bewogen hatte, ausgerechnet die Sintflut als Erstes in Angriff zu nehmen, war allen ein Rätsel. Dass er sich nicht ungeübt an die stärker gewölbten Randbereiche heranwagte, sondern eines der für die Längsachse vorgesehenen Motive vorzog, war noch verständlich. Schließlich würden die Propheten und Sibyllen zwischen den Spandrillen in extremer perspektivischer Verkürzung ausgeführt werden müssen. Doch sich gleich zu Beginn an einer Szene zu versuchen, in der es von Menschen nur so wimmelte, erschien den anderen als immenses Wagnis – insbesondere, da nahezu alle Figuren nackt und in zum Teil komplizierten Haltungen darzustellen waren. Man wusste noch nicht einmal, welche Eigenschaften der Intonaco an den Tag legen und wie er auf die Farben reagieren würde.
»Anscheinend will er den Parnass von oben nach unten besteigen«, war Granaccis Kommentar. Doch nicht einmal er versuchte, Michelangelo umzustimmen. Seine Aufgabe bestand darin, Dinge von Michelangelo fernzuhalten, nicht sie an ihn heranzutragen. Der Bildhauer hatte seine Entscheidung getroffen, die Reise hatte begonnen. Für eine Umkehr war es zu spät.
Der fertige Entwurf für die Sintflut hatte alle tief bewegt. Er hatte der Bottega noch einmal vor Augen geführt, wie ernst Michelangelo seine Aufgabe nahm und dass er tatsächlich fest entschlossen war, mit sämtlichen Konventionen der Malkunst zu brechen. Ausdrucksstärker war der menschliche Körper noch nie dargestellt worden. In jedem Muskel würde die verzweifelte Anstrengung der Flüchtenden spürbar werden, jede Geste und jede Haltung spiegelten Gottes Zorn über seine eigene Schöpfung wider.
Im Vordergrund war ein Mann zu sehen, der sich, sein Kind auf dem Arm, vor der Flut zu retten versuchte. Damit würden sie beginnen. Als Bastiano das ausgearbeitete Motiv in Originalgröße auf dem Karton vor sich gesehen hatte, wäre ihm beinahe die Perforationsnadel aus der Hand gefallen. Der Tod von Vater und Sohn war bereits entschieden, alles Bemühen war vergeblich. Bastiano hatte ein gutes Auge, das Wesen von Michelangelos Kunst jedoch würde er stets mit dem Herzen erfassen.
»Gibt es keinen Trost?«, fragte er.
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