Der Sixtinische Himmel
ich lebe und arbeite, werden du und deine begabten Hände immer ein Auskommen bei mir finden.«
Alle waren erleichtert. Sogar Bastiano klopfte Aurelio im Vorbeigehen auf die Schulter. Er hatte allen Grund, stolz auf sich zu sein. Und das würde er auch, später. Im Moment jedoch verlangte ein anderer Gedanke seine Aufmerksamkeit. Wenn das hier vorbei ist, hatte Piero gesagt. So weit hatte Aurelio noch nie gedacht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass »das hier« je vorbei sein würde.
Die Erfüllung seines Lebenstraums hatte darin bestanden, nach Rom zu kommen, in Michelangelos Dienste zu treten und Bildhauer zu werden. Nun, der größte Wunsch – Bildhauer zu werden – würde für immer unerfüllt bleiben. Das hatte er gewusst, als Michelangelo ihm damals die Zeichnung geschenkt hatte. Und alle Versuche, die Aurelio danach noch unternommen hatte, um sich das Zeichenhandwerk anzueignen, hatten es bestätigt: Seine Hände waren begabt, doch vom Auge bis zur Hand war es ein langer Weg, und irgendwo auf diesem Weg gab es eine Kluft, die er niemals würde überbrücken können. Das galt für Stift und Papier, und noch mehr galt es für Stein und Eisen. Sicher ein Dutzend Mal hatte Michelangelo versucht, ihm die Figur zu zeigen, die in dem Marmorblock in seinem Atelier steckte, hatte sie ihm beschrieben und gezeichnet, hatte den Block, in dem sie eingeschlossen war, mit Linien angedeutet. Doch selbst mit der Zeichnung in der Hand vermochte Aurelio in der Säule nichts anderes zu erblicken als ein großes Stück Marmor.
Agnolo und Tedesco hatten die perforierte Linie des Kartons auf den Putz übertragen: der Mann mit dem Kind auf dem Arm. Vater und Sohn. Die ersten zwei von über hundert geplanten Figuren. Und bereits diese beiden waren von ungeheurer Ausdruckskraft. Es war der Beginn eines einmaligen Unterfangens. Alle hielten mit der Arbeit inne. Die erste Giornata umfasste eine Fläche von gerade einmal zehn Quadratfuß. Selbst wenn alles gutging und keine Komplikationen auftraten, würden sie bei der Größe tausend Tage lang Putz rühren, Kartons übertragen und Pigmente verreiben müssen. Doch am Ende würden sie reich belohnt werden. Michelangelo würde nicht nur die Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments dargestellt haben. Das Fresko würde seine eigene Schöpfungsgeschichte sein.
»Wie geht es den Farben?«, fragte Granacci, der mehrmals nach Florenz gereist war, um bei den Mönchen im Kloster San Giusto alle Mura die Farben zu besorgen.
Bastiano, der gerade Azuritpigmente in Wasser gelöst hatte, tauchte vorsichtig einen Pinsel in die Flüssigkeit. Anschließend ließ er einen blauen Tropfen in den Tiegel zurückfallen. »Bereit für die Sintflut.«
Bugiardini nickte bestätigend.
»Also dann«, Granacci atmete zweimal tief durch und trat an den Rand der Bühne. »Michelangelo!«
»Was?«, tönte es von unten.
»Die Schöpfung wartet.«
XXV
Aurelio stand am Ufer des Tiber und betrachtete den sich auf dem Wasser spiegelnden Mond. In den letzten Tagen war der Fluss merklich angeschwollen. Die Tramontana hatte erste Vorboten geschickt – kalte Böen, die plötzlich durch die Straßen jagten und die Plätze erschauern ließen, ohne dass am Himmel eine Wolke zu sehen gewesen wäre. Die dunkle Jahreszeit kündigte sich an. Heute Nacht jedoch kam der Wind noch einmal von Süden, hatte sich lange an erhitzten Steinen gewärmt und sich am schwellenden Abgesang des Sommers gesättigt.
Margherita hatte Aurelio ein neues Hemd nähen lassen. Bei Tage schimmerte es in nicht bestimmbaren Blautönen, bei Nacht, im Mondschein, nahm es die Farbe von flüssigem Silber an. Ein Gemisch aus Seide und Wolle. Der Stoff fiel schwer und weich, und dennoch spürte Aurelio ihn kaum. Jetzt kroch der warme Wind die Ärmel hinauf und blähte sie wie Segel. Hier, an der Flussbiegung, die Torre di Nona im Rücken, schräg gegenüber die von Fackeln bekränzte Engelsburg, hatte Aurelio in den vergangenen Monaten viel Zeit verbracht. Immer dann nämlich, wenn er darauf wartete, dass Margherita auf ihrem Balkon die zweite Fackel aufsteckte – als Zeichen, dass ihr Besucher das Haus verlassen hatte. So auch heute.
Es nagte an ihm. Und es wurde nicht besser dadurch, dass es sich wöchentlich wiederholte. Zu wissen, dass sich andere Männer seiner Geliebten bedienten, sie benutzten, wie man einen Griffel benutzte, war schmerzlich genug. Darauf warten zu müssen, bis Margherita mit ihnen fertig war, um danach selbst an die
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