Der Sixtinische Himmel
Reihe zu kommen, erniedrigte Aurelio jedoch in einer Weise, die einen Groll in ihm hervorrief, aus dem er sich kaum befreien konnte. Er ließ sich auf der Uferböschung nieder und lauschte dem Fluss. Die gurgelnden Strudel schienen seine flüchtigen Gedanken in die Tiefe zu ziehen, hinunter auf den Grund, wo sie von der Strömung erfasst, flussabwärts getrieben und schließlich ins Meer gespült wurden.
* * *
Den Stoff für das Hemd hatte Margherita von einem ihrer Kunden erhalten, einem, wie sie sagte, »gutbetuchten Tuchhändler«, der sich, sofern man ihren Ausführungen Glauben schenkte, wie ein wandelndes Gemälde kleidete. Aurelio wollte kein Hemd, das aus dem Stoff eines ihrer Kunden geschneidert war. Er fühlte sich darin, als sei er Margherita etwas schuldig. Doch es war ein schönes Hemd, schöner noch als sein altes, und am Ende war es einfacher gewesen, es anzunehmen als abzulehnen.
Durch besagten Tuchhändler war Margherita dem Borgo Leonino entronnen, wo sie sich in den heißen Sommermonaten als gewöhnliche Hure verdingt hatte – harte Arbeit in einem Viertel, in dem jede dritte Frau von der Prostitution lebte und die anderen zwei Drittel nur deshalb nicht, weil niemand sie mehr haben wollte. Doch das hatte Margherita nicht abgeschreckt. Auch die göttliche Imperia hatte ihre Karriere als »Gewöhnliche« im Borgo Leonino begonnen.
Der Tuchhändler zahlte in Naturalien. Zu Beginn ihrer Beziehung hatte Margherita das gar nicht geschmeckt. Bis sie eines Tages mit den vielen Stoffbahnen zu dem Bekannten ihrer Cousine ging, der sofort ins Hinterzimmer eilte und den Ladenbesitzer holte. Dieser schlug beim Anblick der Stoffe die Hände zusammen: »Gebenedeit seist du, Maria!«, rief er aus. Sie trafen eine Abmachung. Für jede Stoffbahn, die der Ladenbesitzer von ihr erhielt, nähte seine Frau, die bei einem Edelschneider angestellt war, Margherita ein Kleid, das die Begierde eines jeden Mannes entfachen und jede Frau vor Neid erblassen lassen würde. Von nun an ging es bergauf. Im Borgo Leonino ließ sich Margherita nicht mehr blicken, stattdessen stolzierte sie mit den anderen Kurtisanen zwischen den Säulen des Kreuzgangs von Santa Maria della Pace umher. Und zwar jeden Tag in einem anderen Kleid, eines schöner als das andere. Nach wenigen Wochen kannte man sie nur noch als »die mit den schönen Kleidern«.
Ein zweiter Dauerkunde kam hinzu. Aus Diskretionsgründen behielt Margherita seinen Namen für sich. Möglicherweise war Aurelio ihm bereits im Vatikan begegnet. Er war bekannt, einigermaßen wenigstens. Ein Deutscher, der seit inzwischen zwanzig Jahren in Rom lebte und dessen Aufstieg innerhalb der Kurie sehr vielversprechend verlaufen war. So wie Margherita von ihm sprach, hätte man meinen können, es handele sich um ihr Rennpferd. Er bekleidete das Amt eines apostolischen Brevenschreibers. Erst kürzlich war ihm der Titel eines familiaris papae zugesprochen worden, er war also offizieller Tischgenosse des Heiligen Vaters – was immer das bedeutete. Er war furchtbar eitel, ein Geck, der fortwährend lateinische und griechische Verse zitierte und den Liebesakt nur im Stehen und vollständig bekleidet vollzog. Außerdem war er herrisch und eifersüchtig und verlangte von Margherita, keine anderen Kunden zu empfangen. Bei dem Gedanken daran, dass sie es mit einem anderen trieb, lief er rot an und stampfte mit dem Fuß auf. Gerade so wie Ceffo, der Mann aus ihrem letzten Leben. Offenbar zog sie solche Männer einfach an. Im Gegensatz zu Ceffo allerdings zahlte der Brevenschreiber in Golddukaten. Und er arbeitete für die Kurie. Durch ihn hatten sich Margherita die Pforten des Vatikans geöffnet.
In Ufernähe, kaum drei Armlängen von Aurelio entfernt, drehte sich seit einiger Zeit eine Holzkiste auf dem Wasser. Sie war in den Sog eines Strudels geraten, der zu schwach war, um sie unter Wasser zu ziehen, aber zu stark, als dass sich die Kiste aus seiner Umklammerung hätte befreien können. So tanzte sie um ihr Leben. Der Mondschein verlieh dem nassen Holz einen gespenstischen Glanz. Ein ums andere Mal wollte der Strudel die Kiste hinabziehen, während sie immer wieder seinen Griff abzuschütteln versuchte.
Margherita hatte noch einen dritten festen Kunden, einen wohlhabenden Künstler. Er war keiner, der ihren Aufstieg vorantreiben würde – dafür war er weder reich noch bekannt genug. Doch gegen die anderen beiden bedeutete, ihn zu empfangen, ein reines Vergnügen. Eine Frohnatur.
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