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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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Knoblauch, Weißwein, Rosmarin und Basilikum.«
    »Das ist absurd«, knurrte Tedesco. »Selbst wenn sie helfen würde: Michelangelo wird sie nicht anrühren.«
    »Hat jemand eine bessere Idee?«, fragte Granacci.
    Als niemand antwortete, zog Granacci den Lederbeutel aus seinem Umhang, in dem er sein Geld verwahrte, zählte ein paar Münzen ab und drückte sie dem Fattorino in die Hand. »Beeil dich.«
    * * *
    In der dritten Nacht hatte Michelangelo die Suppe noch immer nicht angerührt. Die Schale stand unangetastet auf dem Schemel neben dem Bett. Aurelio tauschte seinen Platz mit ihr – den Stuhl mit der Lehne für die Suppe, den Schemel ohne Lehne für sich selbst. Schon seit Stunden kämpfte er gegen den Schlaf an. Besser keine Lehne. Er durfte Michelangelo nicht unbewacht seinen Dämonen aussetzen. Sein Meister wäre zu keiner Gegenwehr mehr fähig.
    Er legte seine Hände auf Michelangelos schweißnasse Brust. Die Todesdämonen kamen, mit großen Schritten, und streckten ihre Tentakel nach ihm aus. Aurelios Hände waren so sicher, wie sie nur sein konnten. Er entzündete eine weitere Kerze.
    Michelangelos Augenlider begannen zu flattern, öffneten sich jedoch nicht.
    »Maestro?«
    Das Fieber verschleierte den Blick seines Meisters derart, dass Aurelio nicht sicher war, ob er ihn überhaupt wahrnahm. »Die Schönheit der Schöpfung«, flüsterte er.
    »Maestro!«
    »Was wird mich erwarten?« Michelangelo versuchte zu schlucken. »Ich habe Angst, Aurelio. Wie albern. Angst. Ich bin ein Sünder.« Aurelio sah das Blut in seinen Adern pochen. »Wenn ich wüsste, dass du … Sogar die Aussicht auf das Fegefeuer hätte etwas Erfreuliches.« Seine Augen schlossen sich.
    Aurelio musste handeln. Jetzt. Solange sein Meister halbwegs bei Verstand war. Er beugte sich vor. »Maestro? Maestro, hört Ihr mich?«
    »Glockenklar. Die Stimme aus dem Paradies. Dem Ort, der mir für immer verwehrt bleiben wird.« Er versuchte sich an einem Lächeln. »Am Ende wird es doch noch der Himmel. Was glaubst du, Aurelio? Wird es der Himmel?«
    »Maestro, hört mich an!«
    »Ich höre.« Jetzt erschien wirklich ein Lächeln auf seinem Gesicht. Als habe er den Tod bereits akzeptiert. Das wäre das Schlimmste. Wenn er aufgehört hätte zu kämpfen.
    »Maestro!« Aurelio fasste ihn an den Schultern und schüttelte ihn. »Seht mich an!«
    Michelangelos Augen öffneten sich. Seine Pupillen tasteten umher, ohne etwas zu finden.
    »Hier!«, rief Aurelio.
    Die Iris zog sich zusammen. »Ah!«
    »Hört mich an!«, wiederholte Aurelio. Die Verzweiflung schnürte ihm die Kehle zu.
    »Ich höre«, wiederholte Michelangelo friedlich. Die Pupillen weiteten sich bereits wieder.
    »Seht mich an!«, schrie Aurelio.
    Für einen Moment schüttelten Michelangelos Augen ihren Schleier ab. Dies war die vielleicht letzte Möglichkeit.
    »Ihr könnt leben. Oder Ihr könnt sterben.« Heiße Tränen rannen Aurelios Wangen hinab. »Die Entscheidung liegt bei Euch. Aber wenn Ihr leben wollt …« Eine Handvoll Worte noch, danach brächte er keinen Laut mehr über die Lippen. »Wenn Ihr leben wollt, dann müsst Ihr das jetzt entscheiden. Jetzt, hört Ihr!«
    Michelangelo tastete nach den Händen seines Gehilfen. Wie die von Tommaso, damals, auf dem Totenlager. Wie lange war das her? Noch kein Jahr, grotesk, erschien es ihm doch fern wie Indien. Aurelio stieß einen Fluch aus. Er verfluchte sich selbst, seine begabten Hände, den Tod. Nie war die Ohnmacht größer, die Verzweiflung übermächtiger als im Angesicht des Todes. Warum hatte Gott ihm Hände gegeben, die den Tod fühlen konnten, wenn es doch keine Möglichkeit gab, ihn abzuwenden? Was war das für ein teuflischer Gott, der den Menschen nach seinem Ebenbild erschuf, einzig um ihn die vernichtende Einsicht zu lehren, dass alles Streben am Ende vergebens war?
    Michelangelos Hände hatten Aurelios gefunden und umklammerten sie. Zumindest versuchten sie es. Noch vor wenigen Tagen hatten diese Hände mit traumwandlerischer Leichtigkeit Schlägel und Eisen geführt. Jetzt hätten sie nicht einmal mehr einen Griffel halten können.
    »Ich will leben, Aurelio«, flüsterte Michelangelo.
    Durch den eigenen Tränenschleier sah Aurelio, dass auch sein Meister weinte. Wie konnte sich ein derart ausgetrockneter Körper noch feuchte Tränen abringen?
    Vorsichtig zog er seine Hände unter denen Michelangelos hervor. Er nahm die Schale mit der Suppe vom Stuhl und tauchte mit zittriger Hand den Löffel in die Flüssigkeit.

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