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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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zeigten einzelne Hände, Finger, Augen. Aurelio nahm eine Scheibe von der Größe eines Doppeldukaten, auf der ein Stück alttestamentarischer Himmel zu sehen war, und zerrieb sie langsam zwischen den Fingern. Der Putz zerfiel wie nasse Kreide. Doch es war nicht der Kalk, der die Feuchtigkeit einschloss. Es war das Bindemittel. Aurelio hob ein weiteres Stück von der Bühne auf, brach es auseinander, beroch es und zerrieb es so lange zwischen den Fingern, bis nur noch Krümel übrig waren. Krümel, keine Körner. Was hatte Rosselli gesagt? In Florenz nahmen sie Marmorkalk und Arnosand, hier in Rom verwendete man Travertinkalk und Pozzolana. Pozzolana. Vulkanasche.
    An der Seilwinde ließ er zwei Eimer hinab. Mit denen schlich er in den Cortile del Belvedere, schöpfte Wasser aus dem Brunnen, blickte zu den Gemächern Aphrodites empor, deren Fensterläden, wie immer um diese Zeit, verschlossen waren, und eilte zurück in die Kapelle. Er zog die wassergefüllten Eimer auf die Bühne, schnürte einen Sack mit Ätzkalk und einen mit Pozzolana auf, griff sich zwei zusätzliche Eimer und maß ab: zwei Sester Kalk. Daran würde er nicht rütteln. Den Rest mussten seine Hände herausfinden. Vorsichtig goss er Wasser auf den Kalk, wartete, bis das vertraute Zischen ertönte, und begann zu rühren.
    * * *
    Als Aurelio hörte, wie die Tür geöffnet wurde, war die Kapelle von diffusem Licht erfüllt und die tiefstehende Herbstsonne kämpfte sich durch die Nebelschlieren. Seit Stunden war er auf der Bühne zugange. Er hielt inne und wartete auf de’ Grassis herrische Stimme. Doch was zur Bühne empordrang, war ein halbes Flüstern.
    »Aurelio?«
    »Maestro Rosselli!«
    »Was um alles in der Welt machst du da oben?«
    »Kommt herauf, dann zeig ich es Euch.«
    »Nein, du kommst herunter! Michelangelo will dich sehen.«
    Aurelios Herz setzte einen Schlag aus. »Wie geht es ihm?«
    »Gut genug, um niemanden außer dir in seine Kammer zu lassen.«
    »Hat er gesagt, weshalb er mich sehen will?«
    »Er sagt, er habe Hunger!«
    Aurelio atmete auf. Sein Meister hatte Hunger. Wann war das jemals vorgekommen? Ein denkwürdiger Tag. »Das hat ihn sicher sehr überrascht«, sagte Aurelio.
    Nach den in Furcht erstarrten Tagen an der Schwelle des Todes neben Michelangelos Bett fühlte sich Aurelio seltsam unbeschwert, beinahe heiter. Sein Meister hatte Hunger. Er würde nicht sterben, jedenfals nicht so bald. Und das Fresko … Nun, es würde eine zweite Chance bekommen.
    »Wie ich sehe, bist du zu Scherzen aufgelegt«, sagte Piero in einem für ihn ungewöhnlich scharfen Ton. »Das freut mich für dich. Und jetzt komm.«
    Aurelio konnte spüren, wie ihm der Leichtsinn zu Kopf stieg. »Kommt erst herauf, Maestro. Michelangelo wird auch später noch Hunger haben.«
    Piero schnaubte etwas Unverständliches, doch dann begann die Leiter zu vibrieren. Er kannte seinen Gehilfen. Wenn der darauf bestand, dass er auf die Bühne stieg, hatte er einen guten Grund.
    Oben erwartete Piero der Anblick einer grauen Masse auf einer Kelle. Aurelio hielt sie so, wie Rosselli es in seinem Traum getan hatte – wie ein Tablett. Mit dem Unterschied allerdings, dass Aurelio die Masse balancierte, ohne dass sie über den Rand quoll.
    Rosselli rührte sich nicht. Er fixierte den Intonaco, als erwarte er, dass dieser zum Leben erwachte. Er blickte Aurelio an. Dann wieder den Intonaco. Schließlich sah er sich auf der Bühne um und betrachtete nachdenklich den losen Halbkreis aus Eimern, Säcken und Werkzeugen, den sein Gehilfe über die Bretter verteilt hatte.
    »Ganz schönes Durcheinander«, stellte er fest.
    Aurelio hielt die Kelle unverändert. Sein Blick ruhte auf Rosselli. »Keine Sorge«, sagte er und konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken, »ich bringe es wieder in Ordnung.«
    Zögerlich tauchte Rosselli seinen Zeigefinger in die Masse, zog eine Rille hinein und beobachtete, wie sich die Furche schloss, aber eine Vertiefung zurückblieb.
    »Hm.« Er prüfte er die Konsistenz zwischen Daumen und Zeigefinger. »Hmm.« Am Ende nahm er Aurelio die Kelle aus der Hand, hielt sie schräg und verfolgte, mit welcher Zähigkeit der Putz über die Kante lief und zu Boden klatschte. »Also schön, du Schlaumeier.« Seine Stimme hatte zu ihrem versöhnlichen Ton zurückgefunden. »Sag es mir – bevor dir deine vor Stolz geblähte Brust platzt.«
    Aurelio konnte nicht aufhören zu schmunzeln. »Es ist nicht der Kalk«, brachte er hervor. »Es ist die Asche.«
    Piero

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