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Der Sixtinische Himmel

Der Sixtinische Himmel

Titel: Der Sixtinische Himmel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Morell
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»Dann esst«, brachte er hervor und führte den Löffeln an den Mund seines Meisters.
    * * *
    Bei Tagesanbruch stieg Aurelio die Stufen ins Erdgeschoss hinab. Die Bottega war vollständig im Atelier versammelt. Granacci und Rosselli unterhielten sich flüsternd in einer Ecke. Bastiano lehnte an der Wand und blickte in den Hof hinaus. Tedesco und Agnolo saßen auf Holzkisten und spielten Karten. Bugiardini schlief. Beato fegte den Boden, obgleich nirgends ein Staubkorn zu sehen war. Als Aurelio in die Tür trat, verstummte das Gespräch zwischen Granacci und Rosselli. Bastiano drehte sich zu ihm um. Der Besen hielt inne. Agnolo sammelte wortlos die Karten ein und schob sie unter die Kiste in ihrer Mitte.
    »Er hat entschieden zu leben«, sagte Aurelio. Dann schlurfte er in seine Kammer und ließ sich auf sein Lager fallen.

XXVIII
    Rings um ihn herrschte tiefe Nacht. Er hörte Bastianos Atem neben sich. Ihre Kammer. Ihr Bett. Michelangelo hatte entschieden zu leben. Aurelio schien den ganzen Tag geschlafen zu haben. Doch warum war er erwacht? War es Hunger? Oder Durst? Nichts davon. Da war etwas gewesen. Im Traum. Aurelio setzte sich auf. In der formlosen Dunkelheit versuchte er, die Fäden seines letzten Traums zu greifen.
    Piero. Er und Piero, auf der Arbeitsbühne. Piero, der ihm die Kelle wie ein Tablett darbot. Verläuft ziemlich schnell . Piero versuchte, den Intonaco auf der Kelle zu balancieren, doch der Putz war zu flüssig, lief an den Kanten herab, tropfte auf den Boden und benetzte seine Hand, wo er blutige Löcher hinterließ. Ein weiterer Faden: Er, Aurelio, wie er am Tiber saß und darauf wartete, dass Margherita die zweite Fackel aufsteckte. Die Holzkiste, die auf dem Fluss kreiste. Ein merkwürdiger Fluss. Plötzlich eine Gestalt hinter ihm. Ein Kapuzenumhang, das Gesicht verborgen. Die Wasser des Tiber sind nicht dieselben wie die, die den Arno hinabfließen . Aurelio kannte die Stimme, doch wusste er nicht, woher. Einen Moment später waren Kiste und Gestalt veschwunden.
    »Zu flüssig.« Das Dunkel saugte seine Worte in sich auf wie ein Schwamm.
    Aurelio ließ seinen Oberkörper ins Bett zurücksinken. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Er versuchte es gar nicht erst. Verläuft ziemlich schnell , hatte Piero gesagt. Gleich zu Anfang hatte er gemerkt, dass die Konsistenz des Intonaco nicht die richtige war. Seine Gewissenhaftigkeit jedoch hatte der Rezeptur mehr vertraut als seiner eigenen Intuition. Inzwischen war Piero davon überzeugt, dass der Ätzkalk die Schimmelbildung bewirkt hatte. In Rom wurde er, anders als in Florenz, aus Travertin statt aus Marmor gebrannt. Bei ihrem zweiten Versuch mit dem Fresko wollte er deshalb mit Marmorkalk arbeiten, den sie aus Florenz kommen lassen würden. Damit hatten sie Erfahrung.
    Aurelio dachte nach. Möglich, dass der Travertinkalk eine andere Oberflächenstruktur bewirkte, aber die flüssige Konsistenz hatte er nicht zu verantworten, und weshalb ausgerechnet der weichere und porösere Stein die Feuchtigkeit stärker einschließen sollte als der viel härtere Marmor, leuchtete Aurelio nicht ein. Er wartete bis zum Morgengrauen. Vorher würden ihn die Wachen der Schweizergarde nicht in den Vatikan lassen. Er wollte in die Sistina. Allein. Bevor er mit Piero und den anderen sprach, mussten sich seine Hände Gewissheit verschaffen.
    * * *
    »So früh?« Die Wachen erkannten ihn, hielten ihre Hellebarden jedoch gekreuzt.
    »Wo sind die anderen?«, wollte die zweite Wache wissen. »Wo ist dein Meister, der Maler?«
    »Er ist Bildhauer«, entgegnete Aurelio.
    Die Wache verzog gelangweilt die Mundwinkel. Maler, Bildhauer, wo war der Unterschied? »Und, wo ist er?«
    »Im Bett. Krank. Ich muss etwas für ihn holen, aus der Kapelle. Dringend.«
    Die Wachen sahen einander an. Sie überlegten. Oder gaben vor, es zu tun. Einer ließ seinen Blick über den Petersplatz schweifen. Nebel. Seit Tagen das Gleiche. Nicht einmal bis zu den ersten Häusern konnte man sehen. Als würde man blind werden. Die vielen Marmorblöcke, die nach wie vor auf dem Platz lagerten, schienen schlafend zu schweben.
    »Pfff«, machte eine der Wachen.
    Ihre Hellebarden gaben das Tor frei.
    Auf leisen Sohlen ging Aurelio in die Kapelle. Auf keinen Fall wollte er die Aufmerksamkeit de’ Grassis auf sich ziehen. Seit Michelangelo seine eigene Arbeit von der Decke geschlagen hatte, war die Bühne von niemandem mehr betreten worden. Versprengter Putz bedeckte die Bretter. Größere Brocken

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