Der Sixtinische Himmel
betrachtete die Putzschicht, die auf der Kelle zurückgeblieben war. Von allen Seiten. Endlich erlöste er seinen Gehilfen, indem er fragte: »Nämlich?«
»Ein Drittel weniger Wasser, ein Viertel mehr Pozzolana.«
Wieder ließ Rosselli sich Zeit. »Es wird die Trockenzeit verkürzen.«
»Das bedeutet mehr Schlaf für Michelangelo.«
Piero legte die Kelle in den Eimer. Als er sich wieder aufrichtete, erschien auch auf seinem Gesicht ein Lächeln. »Ich bin ein Schafskopf«, sagte er. »Und du hör endlich auf zu grinsen.«
Teil IV
XXIX
Februar 1509
»Sag mir, was du siehst.«
Aurelio richtete seinen Blick zum Gewölbe empor. Sie hatten zwei der Planen, mit denen die Bühnen abgehängt waren, zur Seite gezogen, um zwischen ihnen hindurch einen Blick auf das Fresko werfen zu können.
»Eine Gruppe von Flüchtenden«, antwortete Aurelio vorsichtig. In der Stimme seines Meisters schwelte schon wieder dieser Zorn, den ein unbedachtes Wort so plötzlich entfachen konnte.
»Wie viele?«
Aurelio kniff die Augen zusammen. Die Körper hingen aneinander wie Trauben. Er wünschte sich, sie vorher gezählt zu haben. Waren es dreißig oder gar vierzig? Er ahnte, dass der Zorn seines Meisters bereits entfacht war. »Es ist zu dunkel, um …«
»Es sind zu viele!«, donnerte Michelangelo. »Wer soll das verstehen? Wenn ich so weitermache, werden am Ende mehr Menschen an der Decke kleben, als in dieser Kapelle Platz finden! Und diese Raumaufteilung!« Den Kopf noch immer zur Decke gerichtet, bedeckte er seine Augen. »Ich bin ein Stümper!«, rief er durch seine Hände hindurch.
Rosselli, Bastiano, Bugiardini und Agnolo, die auf der Bühne zugange waren, hielten inne.
»Piero!«
» Caro fratello ?«, antwortete Rosselli.
»Morgen früh schlagt ihr mir den ganzen Dreck wieder ab!« Michelangelo zog den braunen Umhang enger. »Aber nicht bevor ich es mir noch einmal angesehen habe!« Er setzte die Kapuze auf. Beinahe verschwand er darin. Das Gewicht des gesamten Gewölbes schien auf seinen Schultern zu lasten. Mühsam zog er die Tür auf. Die Fackeln am Papstpalast waren noch nicht entzündet. Michelangelo stapfte in die Dämmerung hinaus und löste sich in ihr auf. Aurelio schloss leise die Tür.
* * *
Tags zuvor hatte Michelangelo die Sintflut zum zweiten Mal vollendet. Nach zehn Wochen Arbeit unter den schlimmsten Bedingungen, ohne ausreichend natürliches Licht, bei Dauerregen, im Schein von Fackeln, deren Ruß nicht in den Intonaco eindringen durfte, mit vor Kälte starren Fingern. Oft hatten Michelangelos Hände abends kaum noch die Sprossen der Leiter umfassen können. Und all dies in der unnatürlich verrenkten, nach hinten gebogenen Körperhaltung und von der ständigen Angst begleitet, dass jeden Moment der Schimmel zurückkehren könnte. Doch er war nicht zurückgekommen. Kein Schimmel, kein Schwamm, keinerlei Salzausblühungen, die bedeutet hätten, den Intonaco wieder abzutragen, da sie das Fresko wie mit einen Fluch infizierten.
Inzwischen mussten sie keinen Schimmelbefall mehr fürchten. Jedenfalls nicht, wenn Rosselli recht behielt. Aurelios Vorschlag, beim Anmischen des Intonaco nicht auf Sand zurückzugreifen, sondern Pozzolana beizubehalten und stattdessen die Mengen an Wasser und Kalk zu ändern, hatte sich als das rettende Mittel erwiesen. Zwar trocknete der Intonaco durch das veränderte Mischungsverhältnis jetzt schneller, was die Zeit, in der die Farben eingebracht werden konnten, einschränkte. War er jedoch erst einmal durchgetrocknet, konnte er dank der Vulkanasche von Feuchtigkeit kaum noch angegriffen werden.
Die Bewältigung der Probleme mit dem Intonaco hatte jedoch nicht verhindern können, dass sich nach Michelangelos Zusammenbruch im November ein weiterer Schatten auf seine Seele gelegt hatte – ein dunkler Begleiter, der ihm noch treu blieb, nachdem er längst wieder genesen war. Seine Krankheit hatte die Harmonie seiner Körpersäfte so nachhaltig zerstört, hatte so viel schwarze und gelbe Galle in seine Bahnen gespült, dass ein Gleichklang unmöglicher denn je schien. Aurelio konnte die Veränderung mit Händen greifen. In der Umgebung seines Meisters nahm alles eine eigentümliche Schwere an, eine zusätzliche Gravitation. Das Gewicht eines Kruges veränderte sich ebenso wie die Löslichkeit der Farbpigmente. Selbst der im Licht schwebende Staub schien sich plötzlich anders zu bewegen.
Durch Michelangelos cholerisch-melancholischen Zustand befördert, war ein Riss durch
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