Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
»Assimilation« als den »selbstverständlichsten aller Vorgänge in Einwanderungssituationen« (Leggewie 2011b: 15, 25). Aus der sozialen Tatsache der Vermischung wird hier eine Norm abgeleitet, nämlich die Norm »Vermischt euch!«. Darauf kann manmit der Frage antworten, ob denn Daniel wirklich falsch handelt, wenn er auch in Babylon koscher leben will und es ablehnt, sich »mit den Speisen und dem Wein der königlichen Tafel unrein zu machen« (Dan. 1:8). Die in der Interkulturalitätsthese versteckte Verhaltensnorm legt genau diesen Schluss nahe, dass gruppenspezifischer kultureller Eigensinn fragwürdig ist. Damit wird ein Pfad angedeutet, der vom liberalen Multikulturalismus zurück führt zu einem kosmopolitisch reformierten Melting-Pot-Ideal.
Was in der Außenansicht als Alternative formuliert wird zwischen dem Verharren in der Herkunftskultur und dem befreienden Verlassen dieser Kultur erscheint aus der Binnenperspektive der Subjekte möglicherweise anders. Jenseits von Traditionalismus und Entwurzelung deutet zum Beispiel Salman Rushdie ein neues migrantisches Ideal der Mehrfachverwurzelung an. Rushdie, der als Vierzehnjähriger von seiner Familie in Bombay nach England zum Studieren geschickt wurde, beschreibt in seiner Autobiografie den schwierigen Weg, auf dem das eigene Ich einen Anker in verschiedenen Formen des Wir suchte:
»He was one of the luckier ones, but one great problem remained: that of authenticity. The migrated self became, inevitably, heterogeneous instead of homogeneous, belonging to more than one place, multiple rather than singular, responding to more than one way of being, more than averagely mixed up. Was it possible to be – to become good at being – not rootless, but multiply rooted? Not to suffer from a loss of roots but to benefit from an excess of them?« (Rushdie 2012: 54)
Der Schriftsteller formuliert an dieser Stelle die für viele Einzelne in der gemischten Multitude zentrale Frage nach den Bedingungen, unter denen die eigene Hybridität produktiv und zu einer Quelle von Erfolg und Glück werden kann. In dem Maße, wie diese Bedingungen überhaupt durch staatliche Maßnahmen oder gesellschaftliche Initiativen verbessert werden können, liegt hier eine große politische Aufgabe.
Um meine Kritik an der normativen Unschärfe der Interkulturalitätsthese noch etwas zu verdeutlichen, möchte ich eine Kontrastfigur zu Rushdie ins Spiel bringen, die stellvertretend für Millionen von Migranten steht, die nicht aus freien Stücken ihr Land verlassen. Ich meine die jüngst verstorbene Schriftstellerin und Oscar-prämierte Drehbuchautorin Ruth Prawer Jhabvala (»Zimmer mit Aussicht«, »Wiedersehen in Howards End«), die Rushdies Migrationsrichtung umkehrte und mit ihrem indischen Mann von Europa nach Delhi – und später, wie Rushdie, nach New York – zog. Die in Köln geborene Jüdin (Muttername: Cohn) entging als Mädchen nur knapp dem Holocaust, floh nach England, verlor in Deutschland und Polen ihre Familie, ihre Kindheitserinnerungen und all die übrigen Zutaten einer überlieferten Herkunftskultur. In ihren eigenen Worten: »Tradition, Landschaft und jene unerklärliche Zone, in der die Kindheit mit den Erinnerungen der Vorfahren verschmilzt« (zit. nach Watts 2013). Nur ein einziges Mal sprach Jhabvala öffentlich über ihre Kindheit, nämlich anlässlich einer Preisverleihung im Jahr 1979 in Edinburgh. Ohne jede Spur von Selbstmitleid berichtete sie dem Publikum, dass sie im Unterschied zu anderen nicht aus einem lebendig erinnerten Untergrund ihres Daseins schöpfen könne: »I stand before you as a writer without any ground of being out of which to write: really blown about from country to country, culture to culture till I feel – till I am – nothing« (ebd.).
Ich zitiere aus dieser Rede, um noch einmal an den Wert von tradierten gesellschaftlichen Kulturen zu erinnern, die Kymlicka zu Recht als Ressourcen für die individuelle Freiheit und als lange Zeit vernachlässigte Gegenstände liberaler Schutzrechte identifiziert hat. Wenn man einen Augenblick die Perspektive von Flüchtlingen übernimmt, klingt es einigermaßen frivol, Kultur positiv als »Chaos, Tumult und Sprengung von scheinbar festen Deutungsmustern und Sinnkonstruktionen« (Leggewie und Zifonun 2011: 226) zu bestimmen. Tatsächlich kann eine solche Definition nur von der sicheren Warte einer Beobachterposition aus vorgenommen werden, die nicht selbst von Chaos und Tumult erfasst wird. Niemand
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