Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
soll seiner Herkunftskultur treu bleiben müssen, aber auch deren Sprengung sollte man den Subjekten selbst überlassen, die dazu auf lebensweltliche Voraussetzungen angewiesen sind, die ihrerseits hergestellt und gesichert werden müssen.
Konsens besteht darin, dass die Aufweichung von »scheinbar festen Deutungsmustern und Sinnkonstruktionen« ein Ziel sein sollte. Uneinig mit Leggewie und Zifonun bin ich in der Frage, wie weit wir auf dem Weg zu diesem Ziel vorangekommen sind und ob die Wirklichkeit der Weltgesellschaft eine verlässliche Komplizin ist. Mir scheint, dass sich die offizielle deutsche Mehrheitskultur nicht scheut, die Weltgesellschaft aus der Alltagserfahrung zu bannen. So kommt die reale Vielsprachigkeit in der deutschen Gesellschaft den Sprechern nur dann zugute, wenn ihre Muttersprache Deutsch ist. Andere Muttersprachen werden nicht als Ressource, sondern als Defizit behandelt. Insbesondere in der Schule wird der weltgesellschaftlichen Realität der Vielsprachigkeit ein »monolingualer Habitus« (Gogolin 2008) übergestülpt. Anders als der Multikulturalismus unterschätzt die Interkulturalitätsthese folglich die Asymmetrien zwischen Migranten und ethnischenMinderheiten auf der einen Seite und der politischen Macht der Mehrheitskultur auf der anderen Seite.
Ein Teil der Last der Aufgabe, »feste Deutungsmuster und Sinnkonstruktionen« zu verflüssigen, liegt unterhalb der Ebene der Verfassung und Gesetzgebung auf dem Gebiet der Konventionen und Umgangsformen, die ganz zu Recht auch auf der Deutschen Islamkonferenz thematisiert wurden, allerdings immer nur als Forderung an die »Anderen«. Das Konzept der mœurs et manières , das bei Montesquieu und Tocqueville zentral ist, spielt in der Ideengeschichte des Multikulturalismus eine große Rolle (vgl. Levy 2010). Anwendungsfelder gibt es zahlreiche, und ich schließe mit zwei Notizen zur Wissenschaft und zum öffentlichen Alltagsleben.
Die Bereiche der Sozialwissenschaften, die sich mit Zuwanderern und deren Kindern oder längst einheimischen Minderheiten befassen, verschlimmern die Probleme durch die gedankenlose Anlage ihrer Untersuchungen. Birgitte Johansen und Riem Spielhaus haben an prominenten Beispielen von Umfragen gezeigt, wie auch scheinbar unschuldige Datenerhebungen so funktionieren, dass die stillschweigende Prämisse der »erhöhten Integrationsbedürftigkeit« von bestimmten Migrantengruppen und Minderheiten das Ergebnis vorherbestimmt. So setzt die gut gemeinte Frage danach, wie man sich als »Ausländer« in Deutschland fühlt, das Fremdheitsgefühl, über das man Aussagen machen möchte, voraus, und suggeriert zugleich seine Quelle. Muslime in Deutschland sind gefragt worden, ob Muslimen kostenlose Sprachkurse angeboten werden sollten, womit unterstellt wurde, dass Muslime qua Herkunft kein Deutsch können, und dass für die Wissenschaftler auch nur Deutsch als Gegenstand von Sprachkursen infrage kommt, nicht etwa Englisch, Arabisch oder andere hier und da hilfreiche Sprachen (vgl. Johansen und Spielhaus 2012: 106f.). Wertvoll ist auch Sabine Strassers Hinweis auf die Notwendigkeit einer Methode des »kritischen Relativismus« (Strasser und Markom 2010), die intelligent die beiden Klippen der überengagierten Parteinahme für jeweils eine Gruppe und der objektivistischen Perspektive des Insektenforschers umschifft, der von oben auf das Treiben im gesellschaftlichen Ameisenhaufen schaut, und uns stattdessen befähigt, die Dynamik der Sortierung von Menschengruppen aus der Binnenperspektive der Beteiligten zu rekonstruieren.
Auf dem Feld der Alltagsvernunft lautet das Nahziel, im Interesse der Verbesserung des Verhältnisses von dominanten und minorisierten Gruppen Programme zur sanften Gewöhnung an das zunächst Fremde einzuleiten. 47 Ein kleiner Schritt in Richtung Mehrsprachigkeit wäre zum Beispiel die sukzessive Ersetzung der Synchronisation von ausländischen Filmen durch Untertitelung – eine einfache Forderung gegen die Zwangsnationalisierung einer internationalen Kunst, die in Deutschland dazu führt, dass ausländische Stars auf der Leinwand nicht nur Deutsch, sondern hannoveraner Deutsch zu sprechen scheinen. Eine andere Forderung wäre die nach der Einführung neuer religiöser Feiertage sowie Maßnahmen im Arbeitsleben und der übrigen Gesellschaft, die zu einer Berücksichtigung dieser Tage anregen. Ein gutes Beispiel für sanfte Gewöhnung an solche symbolischen Innovationen bietet New York City. In dieser
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