Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Stadt ist es üblich, dass in regelmäßigen Abständen, außer an Feiertagen, abwechselnd jeweils auf einer Straßenseite Parkverbot gilt, um der Straßenreinigung den Weg frei zu machen. Nun sind mit der wachsenden Heterogenität der Bevölkerung mehr und neue Feiertage hinzugekommen. Die Stadt reagiert darauf, indem sie aus Rücksicht auf chinesische, muslimische, indische oder jüdische Bewohner, denen man nicht zumuten möchte, an Feiertagen ihre Autos woanders zu parken, die Straßenreinigung für den jeweiligen Tag ausfallen lässt. Die Bewohner wiederum lernen auf diese Weise ganz nebenbei etwas über ihre Nachbarn und feiern vielleicht sogar zusammen. Das Kopfschütteln, das solche Vorschläge in Deutschland auslösen, ist ein Indiz dafür, wie sehr die Weltgesellschaft eben doch als »Grenzphänomen« aus der Alltagswahrnehmung ausgegrenzt wird.
So ist der Multikulturalismus auch ein Programm der (Selbst-)Reform der mentalen Infrastruktur Deutschlands. Schon in der 1970er Jahren hat der angeblich konservative Soziologe Friedrich Tenbruck den Bürgern dieses Landes einen fatalen Hang nachgesagt, »im eigenen Verkehrskreis zu verharren, um den hohe Barrieren gezogen sind« (Tenbruck 1974: 305f.). Zur Selbstbezogenheit und Gesinnungsfestigkeit der meisten Deutschen ist seit den Siebzigern vielleicht noch die eingebildete Weltoffenheit hinzugetreten. Wer den Multikulturalismus nicht will, bekommt das Deutschland, das Tenbruck beschrieben hat, der in seinen Beschreibungen zugleich und ex negativo verdeutlicht, was Interkulturalität sein könnte:
»Man bleibt gern unter sich, weil man sich dort frei, natürlich und sicher fühlt. Man scheut sich, über den Eigenbereich hinauszugehen, und tut es nur mit sichtbarem Aufwand und oft linkischer Hemmung. […] Eine hohe Selektivität der Kontakte und ausgeprägte Idiosynkrasien [der Deutschen] deuten auf das Bedürfnis nach Gleichartigkeit, und sie bewirken einen Mangel an Aufnahmebereitschaft, Kontaktfähigkeit und Austauschwillen. Der Hang zur cliquenhaften Besonderung, das Fehlen des Gemeinmenschlichen sind spürbar. So unproblematisch und tolerant durchschnittlich die Begegnungen verlaufen, es fehlt an jener Durchlässigkeit, in der sich Individualität ausspricht, ernst nimmt und aneinander reibt, an der Neugier, die sich an der Individualität anderer bilden will, am sozialen Kitt, der erst die soziale Verarbeitung der bunten Lebenswelten und damit die Grundlage der Verständigung in öffentlicher Meinung darstellt.« (Ebd.: 306)
Eine neuere Bertelsmann-Studie zeigt, dass sich daran in den letzten vierzig Jahren wenig geändert hat: Die sozialen Netze der deutschen Stammbevölkerung sind intakt und heute sogar enger verknüpft als in den 1990er Jahren, aber wenig durchlässig für »Andere«. Die Akzeptanz von kultureller Vielfalt hat sich im Vergleich zu anderen Ländern sogar verschlechtert (Dragolov et al. 2013: 33–35). Die Verbesserung der Binnenbeziehungen der Insider bei abnehmender Akzeptanz kultureller Außenseiter gibt zu denken. Um den Bestsellertitel von Thilo Sarrazin zu paraphrasieren: »Deutschland« schafft sich nicht ab, sondern schottet sich ab, und zwar gegen die Realität der eigenen Gesellschaft. Angesichts der Gefahr des Rückzugs des deutschen Mainstreams in eine »Parallelgesellschaft« gilt die Devise der Multikulturalisten heute mehr den je: Eine andere Welt ist wirklich.
Literatur
Adelman, Howard (2011): Contrasting Commissions on Interculturalism. The Hijab and the Workings of Interculturalism in Quebec and France, in: Journal of Intercultural Studies , Jg. 32, Heft 3, S. 245–259.
Ahmed, Leila (2011): A Quiet Revolution. The Veil’s Resurgence, from the Middle East to America , New Haven, CT.
Alexander, Jeffrey C. (2006): The Civil Sphere , Oxford.
Alexander, Jeffrey C. (2013): Struggling over the mode of incorporation. Backlash against multiculturalism in Europe, in: Ethnic and Racial Studies , Jg. 36, Heft 4, S. 531–556.
Alexander, Jeffrey C. et al. (2004): Cultural Trauma and Collective Identity , Berkeley, CA.
Anidjar, Gil (2003): The Jew, the Arab. A History of the Enemy , Stanford, CA.
Arendt, Hannah (1986): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (1951), München.
Bade, Klaus J. et al. (Hg.) (2011): Encyclopedia of Migration and Minorities in Europe , Cambridge, UK.
Bahners, Patrick (2011): Die Panikmacher. Die deutsche Angst vor dem Islam. Eine Streitschrift , München.
Baringhorst, Sigrid
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