Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
immer schon vorausgesetzt, so als ginge es nur noch um ihre konkrete Realisierung im Umgang der Subjekte miteinander. Dies hat sich in jüngerer Zeit geändert, weil das Recht, überhaupt zur politischen Gemeinschaft dazuzugehören, das heißt die Staatsbürgerschaft, zu einem wichtigen Thema geworden ist. Die Bedingungen, an die die Verleihung der Staatsbürgerschaft gebunden wird, finden zunehmend Aufmerksamkeit. In der Integrationspolitik ist die Rede von einem » civic turn «, womit gemeint ist, dass der Status, Bürgerin oder Bürger eines Landes zu sein, wieder eine verbindlichere Bedeutung bekommen soll (Mouritsen 2008). Damit ist nicht unbedingt eine Abkehr vom Multikulturalismus oder eine Hinwendung zu neo-assimilationistischen Ideen verbunden. Kymlicka weist darauf hin, dass eine wohlverstandene Aufwertung der Staatsbürgerschaft kompatibel ist mit der Fortführung einer multikulturalistischen Politik, sofern der Staat sich darauf beschränkt, von Einwanderern nur ganz bestimmte Anstrengungen zu erwarten: dass sie einer Beschäftigung nachgehen, die Grundprinzipien der liberalen Demokratie achten, sowie die Sprache der Aufnahmegesellschaft und etwas über ihre Geschichte und Institutionen lernen (Kymlicka 2012: 16). Neo-assimilatorisch sind demgegenüber die strikte Bindung der Einbürgerung an den Verzicht auf eine eventuell bereits bestehende Staatsangehörigkeit oder an Tests wie den berüchtigten, inzwischen wieder abgeschafften baden-württembergischen »Muslim-Test«, der von den Antragstellern einen liberalen Perfektionismus erwartete, wie er auch in großen Teilen der deutschen Gesellschaft ganz unbekannt ist (vgl. Bahners 2011: Kap. 5).
Während die Aufwertung der moralischen Bedeutung der Staatsbürgerschaft zwar manchmal in ihrer konkreten Ausgestaltung, aber nicht per se problematisch ist, gibt es einen relevanten Streit darüber, ob heutzutage das Konzept einer nationalen Staatsbürgerschaft noch Sinn macht. Wenn wir neo-assimilationistische Positionen für einen Augenblick ignorieren, geht es hier im Grunde um die Frage, ob sich die jeweilige nationale Kultur stärker für die von Migranten mitgebrachten Kulturen öffnen und damit auch die Kriterien für die Vergabe der Staatsbürgerschaft ändern soll, oder ob man gleich nach Formen einer trans- oder supranationalen Staatsbürgerschaft suchen sollte. Autoren wie Brumlik (1998) oder Kymlicka (2012) neigen zur ersten Position, während Leggewie (2013) mit Blick auf Europa die zweite Richtung vertritt. Solange freilich die Europäische Union nicht ein Bundesstaat wird mit einer eigenen gewählten Regierung – eine Perspektive, die sich nicht abzeichnet –, ist der Unterschied zwischen beiden Positionen nicht groß, da die transnationale Staatsbürgerschaft bis auf Weiteres nur die Form einer bi- oder multinationalen, durch zwei oder mehr Staaten gedeckten politischen Mitgliedschaft annehmen kann. Konsens besteht zudem darüber, dass die rechtliche Kluft zwischen Personen mit legalen Aufenthaltstiteln und den Bürgern des jeweiligen Landes nicht zu groß sein darf. Auch langansässige Ausländer sollen fast alle Bürgerrechte genießen und sich aufbestimmten Ebenen an politischen Wahlen beteiligen oder als Schöffen bewerben dürfen.
Der Kern des Problems liegt darin, dass die vielschichtige, jeweils unterschiedlich motivierte globale Massenmigration von Personen immer öfter zu Situationen der unzureichenden oder übermäßigen politischen Inklusion führt. Unzureichend inkludiert sind Migranten, deren Einbürgerung durch die restriktive Gesetzgebung ihres Aufnahmelandes erschwert wird, oder auch Bürger, die, wie Leggewie schreibt, von politischen Entscheidungen in anderen Staaten massiv betroffen sind, ohne auf sie direkt Einfluss nehmen zu können. Übermäßig inkludiert sind dagegen im Ausland geborene Kinder, die lebenslang die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern behalten, ohne zu dem entsprechenden Land irgendwelche Beziehungen zu haben, oder Steuerflüchtlinge, die allein aus finanziellen Gründen und weil es die Gesetze des jeweiligen Aufnahmelandes zulassen, in den Genuss einer weiteren Staatsbürgerschaft kommen. Die klassischen Regeln der Zuteilung von politischer Mitgliedschaft in Staaten – ius sanguinis oder ius soli – sind in einer solchen Welt zumindest ergänzungsbedürftig, weil sie die im Laufe eines Lebens aktivierten oder erlittenen Beziehungen zu verschiedenen Gesellschaften und die daraus entstehenden Rechte und
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