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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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Gesellschaften. Insbesondere der Nationalstaat und seine Institutionen scheiterten daran, »Räume kultureller Eindeutigkeit zu postulieren und zu institutionalisieren […] und dadurch die (faktisch schon gegebene) Weltgesellschaft aus der Alltagserfahrung zu bannen und zum Grenzphänomen zu machen« (ebd.: 223). Obwohl dies eine gute Nachricht zu sein scheint, legen Leggewie und Zifonun nicht den Schluss nahe, dass Interkulturalität in erster Linie Befreiung bedeutet. Eher ist die Lage bestimmt durch Desorientierung und Vieldeutigkeit. Die tiefe Verunsicherung, die bis vor Kurzem nur die Erfahrungswelt von Migranten und »Asylsuchenden« (ebd.) kennzeichnete, hat demnach inzwischen die gesamte Gesellschaft erfasst.
    Die Stärke dieser zugespitzten Diagnose sehe ich zunächst darin, dass sie die Proliferation kultureller Differenzen bis zu einem gewissen Grad vom Migrationsgeschehen ablöst und damit einen Fehler der frühen Multikulturalismus-Debatte in Deutschland korrigiert. Auch nationale Gesellschaften ohne Zuwanderung geraten in dem Maße, wie sie Teile der Weltgesellschaft sind, in den Sog der interkulturellen Auflösung von Eindeutigkeiten, weil nicht nur Menschen wandern, sondern auch Realitätsdeutungen, moralische Orientierungen, Bilder und Ideen. Daraus ergibt sich interessanterweise eine Nähe zu der Ausgangslage jener »ursprünglichen Heterogenität«, unter der in Kanada zunächst ohne Bezug auf Einwandererprobleme über Multikulturalismus nachgedacht wurde. Moderne Gesellschaften sind solche, in denen eingespielte Deutungen und Erwartungen ins Leere laufen und unverstanden bleiben können; in denen folglich, wie Taylor (2009: 22) schreibt »das Streben nach Anerkennung scheitern kann«, ohne dass immer klar ist, wer dafür verantwortlich ist. Ein weiterer Reiz der These von Leggewie und Zifonun ist, dass sie die Gründe für die Unmöglichkeit einer erfolgreichen Assimilationspolitik nicht länger auf der Seite der Migranten und Minderheiten verortet, sondern auf der Seite der Einheimischen und der Mehrheiten. Moderne westliche Gesellschaften und Staaten haben wachsende Schwierigkeiten, ihre propagierte Leitkultur inhaltlich mit Substanz zu füllen. Das Assimilationsprogramm ist nicht in der Krise, weil sich bestimmte Gruppen nicht anpassen wollen, sondern weil das, woran man sich einst anpassen konnte, nämlich eine einigermaßen konsistente Nationalkultur, zerbröselt ist. Die westlichen Staaten, allen voran die Europäische Union, haben keine Idee mehr von sich selbst, aus der sie Standards für andere ableiten könnten.
    Neben diesen Stärken sehe ich den wunden Punkt der Interkulturalitätsthese darin, dass sie keinen Unterschied mehr zu machen scheint zwischen der Erfahrung von Migranten und der Erfahrung derer, die sich in den Aufnahmegesellschaften durch Migration und Transnationalisierung verunsichert fühlen. Zu diesem empirischen Einwand gesellt sich ein normativer. Ähnlich wie die öffentliche Philosophie des Multikulturalismus impliziert auch die Interkulturalitätsthese eine engagierte Position. Allerdings gehen Leggewie und Zifonun nicht wie Taylor von den Wertungen und Anerkennungsbedürfnissen der Subjekte aus, sondern verfahren umgekehrt soziologisch-deskriptiv, indem sie zunächst Behauptungen über die Welt aufstellen. Dazu gehört die Behauptung, dass die Ära des Nationalstaats vorbei sei und damit Fremdheit zum Normalzustand werde. In einem zweiten Schritt werden aus der Beschreibung der Realität normative Schlussfolgerungen abgeleitet. Eine naheliegende Schlussfolgerung ist unproblematisch und lautet, man solle »den Individuen kein Treuegebot zu ›Herkunftskulturen‹ auferlegen« (Leggewie und Zifonun 2011: 220). Entgegen anderslautender Gerüchte ist dies eine Kernforderung des klassischen Multikulturalismus, der die Möglichkeit des gelingenden Lebens ausdrücklich an zwei Voraussetzungen bindet: daran, dass wir nicht den vorfabrizierten Schemen, die von außen an uns herangetragen werden, gleich zu werden versuchen, sondern unser Leben von innen her leben, »from the inside«; und daran, dass wir alle Elemente unserer Lebensführung infrage stellen und revidieren dürfen (Kymlicka 1995: 81f.).
    Bei Leggewie findet sich jedoch noch eine zweite Aussage, die stärker begründungsbedürftig ist. So schätzt er »offene Religionsmärkte« und den »Synkretismus« höher als »dogmatische Reinheitsgebote und institutionelle Berührungsverbote« und begrüßt freiwillige

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