Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Verpflichtungen nicht berücksichtigen.
Vor diesem Hintergrund hat Ayelet Shachar (2009), die ich an dieser Stelle ein weiteres Mal erwähnen möchte, die Idee eines ius nexi entwickelt, das den gelebten Nexus zwischen Personen und Staaten zum Kriterium der Anerkennung von Staatsbürgerschaften macht. Sie stützt sich dabei auf eine klassische Formulierung aus dem Urteil des Internationalen Gerichtshofs im Fall Nottebohm aus dem Jahr 1955, bei dem es um die Frage der Legalität von Mehrfachstaatsangehörigkeiten eines deutschen Geschäftsmanns ging. Das Gericht kam darin zu dem Schluss, dass Staatsangehörigkeit kein leerer Titel ist, sondern »a legal bond having as its basis the social fact of attachment, a genuine connection of existence, interests and sentiments, together with the existence of reciprocal rights and duties« (zit. ebd.: 166). Zentral ist die Formel »genuine connection«, die mehr als einen bloßen Titel und weniger als organische Verbundenheit bezeichnet. Der in Algerien geborene Jacques Derrida, der sich manchmal einen »entwurzelten Afrikaner« oder einen jüdischen »Franko-Maghrebiner« nannte, hat den Zwischenstatus der Staatsbürgerschaft, die weder etwas völlig Artifizielles ist noch eine Zugehörigkeit im umfassenden Sinne bezeugt, gut beschrieben. Weder definiert sie eine »kulturelle, sprachliche oder historische Zugehörigkeit im allgemeinen«, noch ist sie »einfach eine äußerliche oder dem Überbau zugehörige Eigenschaft, die an der Oberfläche der Erfahrung dahingleitet« (Derrida 2003: 31). Weil dies so ist, ist ihr Entzug ein Unrecht, und zwar in der Regel auch dann, wenn man noch über eine weitere Staatsangehörigkeit verfügt.
Diese Diskussion ist wichtig, weil die Politik des Multikulturalismus in mehr oder weniger enger Wechselbeziehung zur Einwanderungs- und zur Einbürgerungspolitik steht. Multikulturelle Staaten bürgern ihre Zuwanderer nach transparenten Kriterien relativ zügig ein, häufig zu einem Zeitpunkt, an dem ihre Integration in die Aufnahmegesellschaft noch nicht abgeschlossen ist und sich die neu gewonnene Staatsbürgerschaft, wie Derrida aus eigener Erfahrung berichtet, noch »ganz und gar unsicher, frisch, bedroht und artifizieller denn je« (ebd.) anfühlt, weil man noch nicht ganz in der neuen Gesellschaft »angekommen« ist. Die Zulassung einer zweiten Staatsbürgerschaft, in der Regel die der Eltern oder eines Elternteils, ist ein Aspekt des Multikulturalismus, insofern Einwanderer ermutigt werden, Elemente ihres kulturellen Erbes zu bewahren und die Beziehungen zum Herkunftsland ihrer Vorfahren zu pflegen. Nichtmultikulturelle Staaten wie Deutschland, die wenig dafür getan haben, dass sich zum Beispiel Türken und Kurden im Land zu Hause fühlen, sind im Licht der Idee eines ius nexi erst recht verpflichtet, doppelte Staatsangehörigkeiten zuzulassen. Denn es kann vermutet werden, dass viele deutsche Türken und Kurden unter den kombinierten Bedingungen von Ausschluss und Assimilationsdruck eine » genuine connection « zu den Herkunftsländern nie ganz aufgegeben haben.
Etwas lockerer als der Zusammenhang zwischen Multikulturalismus und Staatsangehörigkeitsrecht ist der Zusammenhang zwischen Multikulturalismus und Einwanderungspolitik. Gegen Kymlicka ist zu Recht daran erinnert worden, dass der Erfolg des kanadischen Multikulturalismus nicht nur, aber auch mit einer selektiven, an den wirtschaftlichen Bedürfnissen Kanadas ausgerichteten Einwanderungspolitik zu tun hat (vgl. Reitz 2010). Schließlich ist hinzuzufügen, dass auch Länder zum Beispiel in Asien, die keine nennenswerte Einwanderung, aber eine kulturell heterogene Bevölkerung haben, im Prinzip eine explizite Politik des Multikulturalismus einführen könnten.
Multikulturalismus oder Interkulturalität?
Zum Schluss möchte ich auf das Verhältnis des Multikulturalismus zu der neueren These der »Interkulturalität« eingehen. Claus Leggewie und Darius Zifonun (2011) bezeichnen mit diesem Stichwort eine gesellschaftliche Situation, in der das überlieferte Orientierungswissen schnell veraltet, nicht mehr von allen geteilt wird, unzuverlässig wird und damit auch nicht länger eine stabilisierende und richtungsweisende Funktion für die Subjekte übernehmen kann. Globale Migration und Transnationalisierung seien die Randbedingungen einer Lage, in der immer mehr Menschen sich wie Fremde und Exilanten fühlten. Die alltägliche Erfahrung werde ebenso »interkulturell« wie ganze
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