Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
Vom Netzwerk:
diese Identität unter dem Druck der Assimilation die Züge eines Simulakrums an. Assimilation ist eine Schwester der Nachahmung und damit genau jenes Verhaltensphänomens, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts von dem Soziologen Gabriel Tarde entdeckt und erforscht wurde. Dessen Arbeit wiederum hatte großen Einfluss auf Prousts Verständnis des Kopierverhaltens von Individuen in der modernen Gesellschaft.
    In den Schilderungen des Romans wird soziales Verhalten, das auf eine bestimmte Identität schließen lässt, manchmal gedankenlos nachgeahmt, aber mehr noch gezielt und mit strategischen Absichten aufgeführt, um einen besonderen Eindruck zu hinterlassen. In dem Maße jedoch, wie dieses Spiel mit der Identität um sich greift, wächst der Verdacht jedes Einzelnen, dass (auch) die jeweils anderen etwas zu verbergen haben. Das Paradox der Assimilation besteht darin, dass sie »Identität« zu einem Objekt der Willkür und des guten Willens macht: die »Anderen« können, wenn sie es denn wirklich wollen, so werden wie »wir«. Damit ist das Assimilationsverlangenmitbeteiligt an der Produktion des Verdachts, dass jene Anderen nur so tun, als seien sie wie wir. Proust schildert die Wucherungen dieses Verdachts, die sich bis zu einer »sozialen Bewegung« (Proust 2004: 122) steigern können. Verheimlichen die Anderen nicht etwas, und zwar ihre eigene Andersheit, die man hinter der assimilierten Fassade gar nicht mehr recht erkennt? Handelt es sich bei den »Assimilanten« nicht letztlich um Simulanten? Der Assimilationsdruck provoziert diese bohrende Frage nach dem Grund der Identität der anderen, der in ihrer Religion oder Kultur gesucht wird, und den Zeichen, die auf diesen Grund verweisen, die schließlich als »Beweis« dafür genommen werden, »daß sie alle heimlich unter einer Decke stecken« (ebd.). Die in der westlichen Kultur tief verankerte platonische Opposition von Wesen und Erscheinung, Innerem und Äußerem führt zum Scheitern der Assimilation, weil das Publikum, das über den Erfolg von Assimilationsbemühungen richtet, kritisch und stets auf der Hut ist, sich nicht durch den bloßen Schein verführen zu lassen. Hinzu kommt, dass die Unsicherheit und Schwerlesbarkeit der Identität der als fremd Wahrgenommenen die Identität der nationalen Mehrheitsgesellschaft anzustecken droht, die damit plötzlich ihrerseits nicht als natürlich gegeben, sondern als konstruiert und willkürlich erscheint. Die durch den diskriminierenden Blick der Mehrheitsgesellschaft zu einer einzigen Gruppe verschmolzenen europäischen Juden, die als Erste im Selbstexperiment die Konsequenzen der Assimilationspolitik erfahren mussten, haben dieses Bedrohungspotenzial auf besonders markante Weise symbolisiert, bevor sie ganz real zu Opfern wurden. Anstatt die Differenz zwischen den legitimen Mitbürgern und den irgendwie Dazugestoßenen durch die organisierte Anpassung und symbolische Reinigung der Fremden einzuebnen, steigert und zementiert jede Assimilationspolitik die Unterschiede zwischen den als fremd Markierten und den Einheimischen.
    Am besten verstanden haben diese perverse Dynamik Gershom Scholem und Jean-Paul Sartre. Scholem spricht nach dem Holocaust rückblickend von der »gefährlichen Dialektik« der Assimilation, deren Propagandisten die Subjekte in dem Maße, wie sie sich an irgendwelche Normen anzupassen versuchen, als letztlich nichtintegrierbar brandmarken; und auch Sartre sieht richtig, dass die Assimilation genau von denen hintertrieben wurde, die sie am lautesten forderten (Scholem 1970: 27; Sartre 1994: 85f.). Jürgen Habermas dagegen übersieht etwas, wenn er »zwei Gesichter« der Nation einander schroff gegenüberstellt: eine gute Tradition des Nationalstaats, in der allein der Wille der Staatsbürger, dazuzugehören, ausschlaggebend für ihre tatsächliche Zugehörigkeit ist, und eine schlechte Tradition, die die Einheit der Nation an Geburt und imaginierte Blutsbande bindet (Habermas 1996a: 139). Die vorangegangene Diskussion des Strebens nach Zugehörigkeit durch Assimilation hat jedoch gezeigt, dass der bloße Wille von Minderheiten, so sein zu wollen wie die anderen, scheitern muss, wenn das tiefer liegende Problem der Missachtung dieser Minderheiten nicht beseitigt wird. Die zwei Gesichter der Nation sind in Wirklichkeit eins. Die »gewollte Nation« mit ihrem Angebot an alle, sich guten Willens zu assimilieren, ist eine Fiktion oder ein Epiphänomen der »geborenen Nation« (ebd.) derer, die die

Weitere Kostenlose Bücher