Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
(1871–1940), wo manzunehmend darauf aus ist, Menschen in saubere Taxonomien von Kultur, Nation und schließlich auch »Rasse« einzuordnen. Diese Unruhe erreicht ihren Höhepunkt während der Dreyfus-Affäre um den gleichnamigen elsässischen Offizier aus einer hyperassimilierten jüdischen Familie, der nach Arendt (1986: 183) seine Anpassung an den Geist der Dritten Republik bis zu einem Punkt trieb, an dem er selbst antisemitische Tendenzen zeigte. Dreyfus wurde zu Unrecht und allein aufgrund der sozialen Macht einer Verschwörungstheorie zum Verräter militärischer Geheimnisse an die Deutschen erklärt, gerichtlich verurteilt, degradiert und verbannt.
Proust kann gelesen werden als ein glänzender Analytiker moderner Identitätspaniken und der Vergeblichkeit der Anstrengungen von einmal stigmatisierten kulturell »Anderen«, sich vor den Konsequenzen dieser Markierungspraktiken durch Anpassung an die dominante Kultur zu schützen. Solche Anstrengungen scheitern nicht einfach an den Machenschaften bestimmter Interessengruppen, sondern an der »psychologischen Verfassung des mittelmäßigen Individuums« (Proust 1986: 570) und dem wahnhaften Charakter der öffentlichen Meinungsbildung, die daraus folgt. Die Dreyfus-Gegner in dem Roman sehen im angeblichen Verrat des Offiziers ebenso wie in jeder Parteinahme zu seinen Gunsten ein untrügliches Indiz des jüdischen Einflusses in Frankreich. Je weniger »die« Juden als Folge ihrer Emanzipation und Assimilation als solche zu erkennen sind, desto mehr fiebert die Gesellschaft nach Zeichen ihres Wirkens. Dieser Wahn befällt schließlich auch einige der jüdischen Figuren selbst. So ist sich Albert Bloch nicht sicher, ob er aus rationalen Gründen für Dreyfus ist oder vielleicht doch nur, weil »seine Nase, sein Haar und seine Haut« (ebd.: 416) Indizien einer geheimen Affinität zwischen ihm und dem Angeklagten bilden.
Der Roman präsentiert ein Spektrum von Charakteren, die auf unterschiedliche Weise mit dem Assimilationsdruck der nationalistisch erhitzten Mehrheitsgesellschaft umgehen. Da ist zum Beispiel Madame Swann, deren jüdische Vorfahren vor nicht allzu langer Zeit nach Frankreich eingewandert waren, und die sich gerade wegen ihrer Distanz zu französischen Konventionen geschmeidig und gleichsam unerkannt an wechselnde Umstände anpasst und sozial aufsteigt. Oder der assimilierte Jude Charles Swann, der allerdings keine jüdische Mutter hat und daher nicht jüdisch ist im Sinn des jüdischen Religionsrechts. Swann gelingt es, in der Gesellschaft als Nichtjude durchzugehen (der er in gewisser Weise auch ist) und Karriere zu machen, um sich später jedoch als Jude zu »outen« und unter dem Einfluss einer Krankheit eine regelrechte Metamorphose zu vollziehen und tatsächlich jüdischzu werden. Hier klingt das biblische Motiv der Wandlung Esthers an, das bei Proust eine wichtige Rolle spielt. Schließlich gibt es Juden wie Bloch, dessen Eltern eingewandert sind und dessen Aussprache immer noch etwas vom Jiddisch seines Herkunftsmilieus verrät. Bloch scheitert wiederholt bei seinen hartnäckigen Versuchen, wie die anderen zu sein, gibt aber nicht auf, glättet sein Haar mit Brillantine, kleidet sich englisch und trägt ein Monokel, um als Nichtjude und gelegentlich sogar als meinungskonformer Antisemit akzeptiert zu werden (vgl. Sedgwick 1990; Schmid 1999).
»In seinem ständigen Hin und Her zwischen der Ebene der Erfahrung und jener der Phantasie möchte der Mensch«, so Proust, »gern die Vorstellungswelt der Leute, die er kennt, ergründen und die Menschen, deren Leben er sich vorstellen mußte, kennenlernen« (Proust 1986: 327). Prousts Panorama vermittelt jedoch den Eindruck einer Gesellschaft, deren Individuen füreinander schwer zu entziffern sind, teils, weil kein Konsens darüber besteht, woran man wen erkennt, teils, weil die Einzelnen einander nachahmen bis zu einem Punkt, an dem sie wirklich so werden wie ihre Rollenmodelle. »Das Komischste, wenn Sie sie nachmachen«, sagt Albertine zum Ich-Erzähler an einer Stelle, »ist, daß Sie ihr tatsächlich gleichen« (ebd.: 499). Von einer anderen Figur heißt es später fast gleichlautend: »Und das Verrückteste ist, daß sie ihm tatsächlich gleicht, wenn sie ihn kopiert!« (ebd.: 647). Bei Proust ist die Identität der Angehörigen der jüdischen Minderheit in Frankreich abwechselnd das Resultat von rassistischer Zuschreibung, sozialer Konstruktion oder auch individueller Wahl. Vor allem nimmt
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