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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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hellen Fiktionen des Tages« (Mann 1983: 187). Im Alltag macht sich diese Tiefenschicht seiner Identität bemerkbar als innere Reserve und stiller Vorbehalt gegenüber gewissen Bräuchen der Ägypter. So trinkt er bei den wiederkehrenden großen Bierfesten zur Feier der Überschwemmung des Ackerlands durch den Nil »nur andeutungsweise und aus Höflichkeit ein wenig mit« (ebd.: 301). In einer dramatischeren Situation äußert sich Josephs Vorbehalt als Keuschheit gegenüber den Zudringlichkeiten seiner sexhungrigen ägyptischen Herrin, die in ihrer Raserei sogar bereit ist, ihren Gatten und Josephs obersten Dienstherrn mittels der »Kochkunst der Negerländer« (ebd.: 507) aus dem Weg zu räumen.
    Besonders hervorheben möchte ich den folgenden Gedanken. Josephs innerer Vorbehalt bildete nicht nur die Schranke seiner Integration in die fremde Kultur; vielmehr gingen bei ihm »Vorbehalt und Anpassung zusammen, denn es war jener, der ihm diese erleichterte« (ebd.: 297). Der Vorbehalt gründete im Glauben an den Gott Israels, und gerade die Festigkeit dieses Glaubens erlaubte Joseph die große Geschmeidigkeit im Umgang mitallen äußeren Merkmalen der Kultur, in die er hineingeraten war. Wir stoßen hier auf einen wichtigen Befund: Die Integration gelingt, weil sie unvollständig bleibt. Diese Lesart betont sowohl den Unterschied als auch den kausalen Zusammenhang von innerem und äußerem Verhalten, Oberfläche und Tiefe.
    Bevor ich auf diesen Befund und auf weitergehende Argumente gegen Assimilation näher zu sprechen komme, verdient jene mythische Stadt noch einmal Beachtung, an die sich Joseph in Theben erinnert fühlte, nämlich Babylon (oder Babel, wie der hebräische Name lautet). Um das Anregungspotenzial dieser in der Multikulturalismus-Debatte viel zitierten Metapher auszuschöpfen, lohnt sich ein kurzer Blick auf die zwei ebenfalls prominenten Juden Daniel und Esther, für die das babylonische Königreich – anders als Ägypten für Joseph – nur in einem sehr gebrochenen Sinne zur Heimat wurde.
    Daniel bietet das Schauspiel eines radikalen Integrationsverweigerers, der nicht daran denkt, sich den Regeln des Landes, in das er verschleppt wurde, anzupassen. Das gleichnamige Buch des Propheten formuliert eine Gegenposition zu Josephs Verhaltensmodell für Juden in der Diaspora. Man hat sogar von einer »Satire« (Wildavsky 1993: 126–129) auf die Josephsgeschichte gesprochen. Während sich Joseph in der Darstellung Thomas Manns allenfalls eine gewisse »innere Abgesetztheit gegen die Lebensbräuche« (Mann 1983: 575) der Ägypter leistet, kehrt Daniel alle innerlichen Vorbehalte nach außen und demonstriert bei jeder passenden Gelegenheit seine Assimilationsresistenz. An die Stelle von Josephs Kosmopolitismus oder »Weltkindlichkeit« (ebd.: 297) tritt robuster ethnischer Eigensinn und die Praktizierung des Judentums als einer »separatistischen Zivilreligion« (Stroumsa 2011: 145). Anders als Joseph betet Daniel nicht nur, er tut es laut am offenen Fenster, dreimal täglich in Richtung Jerusalem (Dan. 6:11). Im Licht der Regel, dass die Gewöhnung an fremdes Essen der erste Schritt zur Gewöhnung an fremde Werte ist, verweigert er sich zudem der babylonischen Küche: »Daniel war entschlossen, sich nicht mit den Speisen und dem Wein der königlichen Tafel unrein zu machen, und er bat den Oberkämmerer darum, sich nicht unrein machen zu müssen« (Dan. 1:8). Ähnlich wie die Geschichte Josephs erweist sich auch dieses Verhaltensmodell als durchaus erfolgreich. Gott stimmt den Oberkämmerer wohlwollend, und Daniel gedeiht bestens auch mit koscherer Pflanzenkost, tötet einen Drachen, besänftigt Löwen in der Löwengrube und begeistert den König Nebukadnezar mit seinen Traumdeutungen. Kurz: Daniel »ging es gut« (Dan. 6:29) in Babel.
    Ein weiteres Verhaltensmodell lässt sich dem Buch Esther entnehmen, das die Geschichte erzählt, wie Esthers jüdischer Onkel Mordechai sich weigert, vor Haman, dem Wesir des persischen Königs, auf die Knie zu fallen und ihn wie einen irdischen Gott zu verehren, wie Haman sich daraufhin provoziert fühlt, einen Vernichtungsbefehl gegen das gesamte jüdische Volk des Reiches zu erlassen, und wie schließlich dieser Vernichtungsbefehl durch ein Blutbad neutralisiert wird, das die frühzeitig gewarnten Juden unter ihren Feinden anrichten. Die Schlüsselfigur in diesem Drama ist Esther, die jüdische Gemahlin des Königs, die ihre Herkunft lange Zeit für sich behält – sie

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