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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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Standards der Anpassung definieren. Frankreichs gewollte Nation ist keinen Deut offener gegenüber ihren nordafrikanischen Einwanderern als Deutschland mit seiner Tradition eines ius sanguinis gegenüber Türken und anderen.
Kulturkämpfe im europäischen Nationalstaat
    Die Dreyfus-Affäre, von der Prousts Figuren umgetrieben werden, war symptomatisch für die Pathologie des klassischen europäischen Nationalstaats, dessen Träger eine homogene nationale Monokultur schaffen wollten und im selben Zug das Gespenst fremder Kulturen heraufbeschwörten. Der Nationalstaat ist eine Institution zur Einebnung kultureller Differenzen im Inneren, die diese Differenzen in ihrem Außenverhältnis neu erschafft. Die Arbeit des amerikanischen Soziologen Michael Mann hilft uns, dies besser zu verstehen. Mann definiert den Nationalstaat als ein Phänomen, das eigentlich erst seit ungefähr 1880 Gestalt annimmt. Verschiedenen sozialen Kräften gelingt es, eine Verbindung herzustellen zwischen der »extensiven« Organisation von Infrastrukturen, etwa der öffentlichen Verwaltung und des Transportnetzes, und der »intensiven« Organisation der Gesellschaft durch die Normierung von Familienarrangements, elterlicher Verantwortung, der Sexualmoral und bestimmten Konzepten physischer und moralischer »Gesundheit« (Mann 1998: Kap. 9). Das Resultat ist eine Territorialisierung und Naturalisierung der kollektiven Identität, die es erlaubt, das eigene »Land« als eine selbstverständlich abgegrenzte, andersartige, den Nachbarländern überlegene und doch stets schutzbedürftige Einheit zu erfahren. Der Nationalstaat soll von nun an für seine Bürger ein Heim oder ein gemeinsames Haus sein, kein Hotel oder Campingplatz, wo auch Fremde zu ihrem Recht kommen. Damit einher geht die organisierte Anstrengung des Beamtenapparats, eine Bevölkerung mit standardisierten Eigenschaften hervorzubringen, die man leicht zählen, mustern, statistisch erfassen und verwalten kann. Vor diesem Hintergrund wird Vielfalt zum Skandal. Zugleich wird die Frage nach der Zugehörigkeit zur Mehrheit und zum nationalen Kollektiv auf eine historisch neue Weise zum Problem und die eindeutige Bestimmbarkeit von Zugehörigkeit zu einem universellen Imperativ. In der politischen Theorie schlägt sich all dies in einem antikisierenden Diskurs nieder, der Politik und Blutsverwandtschaft, nomos und physis , Gleichheit und »Verbrüderung« (Derrida 2000: 147) miteinander verschweißt.
    In diesem umfassenden Kontext verändert auch der Ausdruck »Assimilation« seine Bedeutung (Rahden 2013). Lange Zeit war damit der Prozess der Aneignung des kulturellen Erbes einschließlich der Sitten und Gewohnheiten der Mehrheitsgesellschaft durch Minderheiten gemeint, deren Angehörige versuchten, »richtige« Franzosen, Deutsche oder Amerikaner zu werden. Im Unterschied dazu versteht man gegen Ende des 19. Jahrhunderts unter Assimilation nicht mehr nur oder in erster Linie eine freiwillige moralische Selbstreform von Individuen und Gruppen, sondern die Erfüllung einer von außen an Minderheiten herangetragenen Norm der Anpassung an die dominante Kultur.
    Damit verschärft sich zugleich das bereits von Proust geschilderte Paradox, dass die Anverwandlung der »Fremden« an die alteingesessene Bevölkerung in dem Maße, wie sie fortschreitet, nicht Sympathie hervorruft, sondern Zweifel an ihrer Echtheit. Eine Debatte in Frankreich in den 1920er Jahren um die Französisierung der Nachnamen von polnischen, italienischen, armenischen oder arabischen Arbeitskräften illustriert dieses Problem. Die Praxis der zentral geregelten Anpassung fremd klingender Eigennamen an das Französische wurde damals, wenn überhaupt, dann nicht deshalb kritisiert, weil sie für die Betroffenen eine Zumutung darstellen konnte, sondern weil man glaubte, wie Le Figaro im Juni 1927 schrieb, dass sich »zahllose métèques   [Kanaken] hinter französischen Namen verstecken« (zit. nach Noiriel 1996: 74).
    Im Fall der jüdischen Bevölkerung ist interessant, dass sie mit der normativen Erwartung umfassender Treue zum Nationalstaat zu einem Zeitpunkt konfrontiert wurde, da der Grad ihrer kulturellen Anpassung an ihre nichtjüdische Umgebung bereits außerordentlich hoch war. In Frankreich schlossen Rabbis die Nation in ihre Gebete ein, während jüdische Intellektuelle dazu aufriefen, sich nicht nur äußerlich, sondern von ganzem Herzen mit Frankreich zu identifizieren und alle Besonderheiten von Sitte und Sprache

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