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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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»erzählte nichts von ihrer Abstammung und ihrem Volk« (Esther 2:20) – und als assimiliert in dem Sinne gelten kann, dass sie den Einheimischen zum Verwechseln ähnlich ist, fast so wie Joseph. Der Unterschied ist freilich, dass sich Esther als Jüdin fühlt und sich als solche in dem Augenblick »outet«, als ihr Volk in seiner Existenz bedroht wird. Dieses Coming-out wiederum schadet Esther nicht, sondern führt dazu, dass der König seine Sympathie von der Person Esthers auf ihren nunmehr offenbarten ethnischen Hintergrund ausdehnt. Die Hebräische Bibel zeichnet somit das Bild einer noch nicht strukturell rassistischen Diaspora-Gesellschaft, in der das Sozialprestige einer ethnischen Minderheit (sowie, im Falle Esthers, die Schönheit und der Charme ihrer Repräsentanten) die feindseligen Motive mächtiger Interessenten aufwiegen können. Die Botschaft lautet, dass Babylon zwar nicht unbedingt zur Heimat für die dorthin verschleppte Minderheit werden muss, wohl aber einen ziemlich sicheren Hafen für Gruppen bietet, denen es gelingt, mit der herrschenden Schicht ein einvernehmliches Verhältnis zum gegenseitigen Nutzen zu entwickeln.
Assimilation, Simulation und Identitätspanik
    Ich komme noch einmal auf den Roman von Thomas Mann zurück. Neben dem Motiv der selbstgewählten Assimilation und der Rolle, die ein innerer kultureller Vorbehalt beim Gelingen dieser Assimilation spielt, gibt es noch ein drittes Motiv, das ich noch nicht erwähnt habe, nämlich die Veränderung der Außenperspektive auf Joseph im Laufe seines Aufstiegs. Die »Verachtung« (Mann 1983: 172) vieler Einheimischer wird verdrängt von einer Faszination, die sich aus demselben Prozess speist, durch den der Fremde den Einheimischen immer ähnlicher wird. Diese Faszination ist allerdingsambivalent, weil der Tausch der alten gegen eine neue Identität die Frage nach der Täuschung der Einheimischen aufwirft. Die wachsende, oft verblüffende Ähnlichkeit von Josephs Gebaren mit dem Gebaren der eigentlichen Ägypter, kombiniert mit seiner Redegewandtheit und Erzählkunst, wird zum Anlass für Spekulation und forschendes Nachsinnen. So finden selbst enge Vertraute, dass seiner Person »immer etwas freundlich und schalkhaft Vexatorisches angehaftet hatte, das den Sinn beschäftigte« (ebd.: 327). Auf diese Weise kann Joseph niemals ganz den Anfangsverdacht seiner ersten ägyptischen Kollegen abschütteln, die argwöhnten, dass etwas mit diesem Mann nicht stimmte, der keine Substanz zu haben schien und kein Eigengewicht.
    Das Thema der Unsicherheit über die wahre Identität von kulturell Fremden, das bei Thomas Mann nur im Vorübergehen gestreift wird, ist von allergrößter Bedeutung in Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit . In diesem Werk hat man seit Hannah Arendt immer wieder einen Schlüssel zum Verständnis des Antisemitismus und vergleichbarer Formen der zeitgenössischen Fremdenfeindlichkeit gesehen (Arendt 1986: 146–162; Jansen 2013). Mit den Mitteln der Literatur analysiert Proust, wie unter dem Einfluss nationalistischer und anderer kollektiver Erregungszustände in Paris die Präsenz der formal seit der Revolution emanzipierten jüdischen Minderheit gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Problem wird. Man könnte versucht sein, im Licht der Dichotomie von Joseph und Daniel bei Proust zwei Sorten von jüdischen Charakteren zu unterscheiden: zum einen äußerlich unauffällige Franzosen mit jüdischem Hintergrund, die wie alle anderen an ihren Karrieren basteln, Meinungen vertreten und freundschaftliche oder intime Beziehungen nach denselben Kriterien eingehen wie der Rest der Gesellschaft; und zum anderen die aus Russland und Osteuropa zugewanderten und geflohenen Juden, die in dem Roman als »nichtassimiliert« bezeichnet werden (Proust 1986: 573). Eine für unser Thema entscheidende Pointe des Textes ist jedoch, dass Proust die Prämisse einer solchen Unterscheidung, nämlich die Möglichkeit einer eindeutigen Bestimmung dessen, was es überhaupt bedeutet, jüdisch zu sein, in Zweifel zieht.
    Prousts Figuren möchten Gewissheit darüber erlangen, wer »Franzose« ist, woran man dies erkennt und wodurch sich ein solcher Mensch von den Angehörigen anderer Nationen unterscheidet. Die Schwierigkeit, gerade assimilierte Juden treffsicher zu identifizieren und ihr Verhalten zu entschlüsseln, sorgt für Unruhe in der feinen Gesellschaft des Faubourg Saint-Germain zur Zeit der Dritten Französischen Republik

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