Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
von Einwanderergruppen. Generell gilt ferner, dass sich unter den Bedingungen moderner Staaten die soziale und ethnische Segregation spontan vollziehen oder administrativ durchgesetzt werden. Sie kann im Extremfall die Herrschaft einer »Herrenrasse« überden Rest der Gesellschaft zementieren, aber auch innerhalb einer Nation von Bürgern auftreten, die im Prinzip die gleichen Rechte haben. 15 Das beste Beispiel für den Zusammenhang von Kolonialismus und Segregation bietet vielleicht das größte, langlebigste und am meisten vernachlässigte Imperium, nämlich das russische, das die Untertanen seiner Kolonien auf der Krim, im Kaukasus, in Finnland, der Ukraine, Polen und Sibirien durch Trennung der Bevölkerungsgruppen und direkte Unterdrückung regierte. Das vorrevolutionäre Russland des 19. Jahrhunderts ist zugleich das Musterbeispiel für die Instabilität dieser Regierungsform (Etkind 2011: 148f.).
Segregation galt in Europa lange Zeit als eine naheliegende und selbstverständliche Option im Umgang mit bestimmten Minderheiten, was man daran erkennen kann, dass auch ein liberaler Geist wie der Aufklärer David Hume für die Gettoisierung der Juden plädierte (Israel 2006: 593). Unter dem Eindruck der teilweise massiven Einwanderung nach Westeuropa nach dem Ersten Weltkrieg wird im 20. Jahrhundert der Gedanke der »ethnischen Inkompatibilität« (Rosenberg 2006: 140) rasch zum Gemeingut zahlreicher Gelehrter und Praktiker. Innerhalb des noch längst nicht faschistischen bürgerlichen Lagers könnte man vielleicht einen Polizeiintellektuellen wie Albert Sarraut, den französischen Innenminister der Zwischenkriegszeit, namentlich hervorheben, der als einer der ersten gilt, die sich für eine besondere Überwachung und Regulierung der Ansiedlung und Mobilität von nordafrikanischen Einwanderern in Paris einsetzte, teils durch sozialen Wohnungsbau, teils durch allerlei repressive Praktiken. Die Einwanderer, so verkündete er 1928 in einer Rede vor Polizisten, bringen »ihre Sitten, ihre Gewohnheiten, ihre Defekte und ihre Laster mit, so dass euer Job wesentlich komplizierter geworden ist« (zit. nach Rosenberg 2006: 80).
4. Gastfreundschaft . Gastfreundschaft bedeutet die zeitlich begrenzte und freiwillige Aufnahme von Fremden innerhalb einer Gastgesellschaft, ohne dass eine Seite die Übernahme der jeweils eigenen kulturellen Denk- und Verhaltensmuster durch die andere Seite erwartet. Der Begriff erinnert an die unselige Geschichte der deutschen Anwerbung und Vermittlung von »Gastarbeitern«, die seit 1955 zuerst aus Südeuropa und dann zunehmend aus der Türkei kamen (Göktürk et al. 2011: Kap. 1). Von diesen »Gästen« wurde erwartet, dass sie ja nicht anfangen sollten, sich in Deutschland häuslich einzurichten. Gegen diese abweisende Haltung richtete sich der Impuls des deutschen Multikulturalismus. Ungeachtet dieser Semantik verdient das Konzept der Gastfreundschaft gleichwohl Beachtung als eine eigenständige Form des Managements kultureller Differenzen. Dafür gibt es zwei Gründe.
Zum einen ist die Vorstellung von den Arbeitskräften, die in den Westen strömen und bleiben wollen, obwohl man sie nicht lässt, zu einfach. Neuere Untersuchungen belegen, dass in über hundert Ländern der Welt die Zahl derjenigen, die endgültig auswandern wollen, nur etwa halb so hoch ist wie die Zahl derer, die gerne vorübergehend und sozusagen als Gast in ein anderes Land gehen würden, um Arbeit zu finden. Diese Zahl beläuft sich auf über eine Milliarde Menschen (Esipova et al. 2012). Auch die Mobilität von Hochqualifizierten ist nicht mehr charakterisiert durch eine einfache Bewegung von der Peripherie in die Zentren der Weltökonomie (»brain drain«), sondern durch komplexere Muster »zirkulärer« Migration. Jenseits von Einwanderung und Einbürgerung gibt es folglich Raum für ein eigenständiges Nachdenken über Bedingungen der Gastfreundschaft.
Zum anderen spielte der Begriff der »Hospitalität« eine wichtige Rolle in der politischen Philosophie von Immanuel Kant, bevor er in unserer Zeit von Jacques Derrida radikalisiert und als Synonym für Kultur und Ethik überhaupt behandelt worden ist (Derrida 2001). In dieser radikalisierten Variante wiederum hat der Begriff Eingang gefunden in jüngere Diskussionen zum Umgang mit Flüchtlingen und »illegalen« Einwanderern (vgl. zum Beispiel Carlson 2009). Kant definiert »Hospitalität« als »das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines
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