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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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schools gesteckt, in denenihnen die christliche Religion aufgezwungen wurde und sie nicht länger ihre Muttersprache sprechen durften. Indianer wurden auf einzelne berühmte Repräsentanten reduziert und als geschichtslose romantische Stars idealisiert. Oder sie wurden als große Kinder dargestellt, die beaufsichtigt und erzogen werden mussten (Francis 2011: Kap. 6 und 9). Wie ihre amerikanischen Nachbarn hielten kanadische Regierungen lange Zeit an dem unrealistischen Ziel fest, die Urbevölkerung in selbstgenügsame, demokratisch gesonnene und patriotische Parzellenbauern zu transformieren. Nur langsam dämmerte es den Verantwortlichen, dass das Geschenk der »Zivilisation« den Gebern viel besser gefiel als den vermeintlich Beschenkten.
    Parallel zu diesen staatlichen Assimilationsversuchen gab es jedoch immer auch eine mächtige Gegenströmung hinsichtlich der kulturellen Prägung der entstehenden kanadischen Gesellschaft durch indianische Einflüsse, ja sogar Ansätze einer aktiven Aneignung indianischer Kulturelemente durch die Neuankömmlinge aus England, Schottland, Frankreich oder Deutschland. Die Indianer, so der kanadische Intellektuelle John Ralston Saul in seinem Buch A Fair Country , seien für die Kanadier das, was für die Europäer die alten Griechen sind (Saul 2008: 31). Diese Sonderstellung der Ureinwohner in den Selbstbeschreibungen Kanadas kann nicht damit erklärt werden, dass die Siedler, die es mehr oder weniger zufällig ins heutige Kanada verschlug, moralisch aufgeschlossener oder liberaler gewesen wären als die Pioniere der Vorgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika. Ausschlaggebend waren vielmehr Umstände, die mit der physischen Geografie und der Demografie der Region zusammenhängen. Die Natur ist so eingerichtet, wie bereits Kant bemerkte, dass selbst die Völker in der »Eiszone« (Kant 1974: 316) der nördlichen Erdhalbkugel überleben können, weil der Mensch entgegen allem Anschein auch dort alles findet, was er braucht. »Hier ist nun«, heißt es in der Kritik der Urteilskraft , »eine bewundernswürdige Zusammenkunft von so viel Beziehungen der Natur auf einen Zweck; und dieser ist der Grönländer, der Lappe, der Samojede, der Jakute, usw.« Allerdings sah Kant in diesen Völkern trotz ihrer erstaunlichen Fähigkeiten der Naturbeherrschung nur »armselige Geschöpfe« (ebd.) ohne echte Kultur.
    Dieser damals weit verbreitete zivilisatorische Hochmut wurde den europäischen Siedlern, die sich nördlich des 49. Breitengrads bewegten, bald ausgetrieben. Um unter den Bedingungen der extremen Unwirtlichkeit und Unzugänglichkeit der kanadischen Landschaft zu überleben, mussten nämlich die Europäer den Angehörigen der Huron, Cree, Mohawk, Mikmaq und anderer Stämme zuhören und von ihnen lernen. Diese Hinwendung warnicht mehr, wie bei Burke, ein Resultat moralischer Einsicht, sondern physischer Notwendigkeit. Den Europäern musste gezeigt werden, wie man sich auf dem Wasser und im tiefen Schnee fortbewegt, wie man sich unter widrigen Umständen ernährt und kleidet. Meritokratischer Individualismus und kulturelle Überlegenheitsgefühle blamierten sich schnell bei subarktischer Kälte und in der Nachbarschaft von Bären und summenden Mückenschwärmen, vor denen man sich nur durch eine sorgfältig gepflegte Kultur der Kooperation mit den alteingesessenen Bewohnern des Landes schützen konnte. Sinnbildlich für diese Situation ist, dass Kanada das einzige von Europäern eroberte Land ist, in dem diese anfangs vollständig auf die Übernahme lokaler Transportmittel angewiesen waren: an die Stelle des Rades und rollender Gefährte traten Schneeschuhe und das Kanu. 17
    Diese Tendenz zur kulturellen Interpenetration wurde unterstützt durch häufige Mischehen zwischen europäischen Männern und Frauen indianischer Abstammung, deren Nachfahren man in Kanada und Teilen der Vereinigten Staaten als Métis (französisch für Mestizen) bezeichnet. Mischehen kamen oft spontan zustande, wurden aber gelegentlich auch gefördert von der Hudson’s Bay Company, die Jahrhunderte lang den Pelzhandel in großen Teilen des britisch beherrschten Nordamerika und ein ausgedehntes Netzwerk von Handelsposten kontrollierte. Im übertragenen Sinne nennt Saul das moderne Kanada eine » métis civilization «, in der die euro-amerikanische Dichotomie von »Cowboys« und »Indianern« zumindest in Ansätzen zugunsten einer Kultur überwunden wurde, deren Angehörige gelernt haben, sich auf andere

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