Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
andern wegen, von diesem nicht feindselig behandelt zu werden« (Kant 1977b: 213). Dieses Recht ist unabhängig von den Gründen, die der Fremdling gehabt haben mag, in einem anderen Land oder Territorium aufzutauchen. Außerdem ist dieses Recht in dreierlei Hinsicht begrenzt. Erstens besagt es lediglich, dass die Gastgesellschaft den Fremdling nur dann aufnehmen muss, wenn diesem woanders der »Untergang« droht (ebd.). Zweitens entlastet es die Gastgesellschaft von allen weitergehenden Ansprüchen auf kulturelle Integration. Hospitalität bedeutet lediglich, dass Fremde und Einheimische sich »neben einander dulden […] müssen« (ebd.: 214). Drittens schließt das Recht der Fremden aus, dass diese selbst jenes »inhospitale Betragen« an den Tag legen, das Kant bei den europäischen Kolonialmächten beobachtet, die ihre »Besuche fremder Länder und Völker« so gestalten, dass daraus koloniale »Ungerechtigkeit« entsteht (ebd.).
Die ersten beiden Punkte machen deutlich, dass Kant ebenso wenig wie viele andere Aufklärer als Vorläufer eines multikulturellen Liberalismus gelten kann. Ganz im Gegenteil. Als Besucher ist der Fremdling für ihn zugleich jemand, der im Grunde woanders hingehört. In einem Aufsatz mit dem Titel »Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse« wird der Philosophdeutlich. Demnach gibt es verschiedene »Wohnsitze« der unterschiedlichen Menschenrassen, die ungefähr den verschiedenen Kontinenten entsprechen. Egal wo Menschen als Besucher auftauchen mögen, ihre »Hautfarbe« ist das untrügliche »äußere Kennzeichen« (Kant 1977a: 73), an dem wir ablesen können, wohin sie eigentlich gehören.
Kapitel 2
Theorie und Kritik
Die Idee des Multikulturalismus entstand aus der Krise seiner Vorgänger, vor allem dem Scheitern und der moralischen Diskreditierung der Assimilationspolitik, und der anschließenden Radikalisierung der Idee des »kulturellen Pluralismus«, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts von jüdischen Elitestudenten in den USA konzipiert wurde (Greene 2011). Der eigentliche Multikulturalismus entstand nicht nur außerhalb Europas, sondern ganz am Rand der westlichen Welt, nämlich in Kanada. Aus Kanada kommen folglich einige der prominentesten Theoretiker des Multikulturalismus, die ich im Folgenden diskutieren werde. Auch der Ausdruck »multiculturalism« tauchte erstmals 1964 in einer Rede des kanadischen Senators und Slawisten Paul Yuzyk auf, und zwar als Alternative zu dem bis dahin gängigen Begriff des »biculturalism«, der die ethnische Vielfalt des Landes auf die französisch-britische Spannung reduzierte (Baringhorst 2011: 264). Schließlich ist der Multikulturalismus seit dem Multiculturalism Act von 1985 mehr als nur eine liberale Parole, nämlich ein Teil der Staatsraison Kanadas. In Kanada – wie auch in den USA – gelten Masseneinwanderung und Multikulturalismus nicht wie in Deutschland als Wege in eine postnationale Zukunft, sondern als Beiträge zur Neudefinition der Nation. Der Multikulturalismus ist darüber hinaus auch ein Aspekt der »Marke« Kanada im internationalen Standortwettbewerb (vgl. Kymlicka 2004).
Ich beginne mit einer genealogischen Skizze zur Geburt des Multikulturalismus, die etwas zu tun hat mit der Erfahrung der Nichteliminierbarkeit der kanadischen Ureinwohner. Im Anschluss daran diskutiere ich am Beispiel ausgewählter Texte von Charles Taylor, James Tully und Will Kymlicka die Grundlagen der politischen Theorie des Multikulturalismus sowie, in einem dritten Schritt, unterschiedliche Kritiken an dieser Theorie. Innerhalb der Kritik besonders einflussreich ist die liberale europäische Strömung, die am prominentesten von Jürgen Habermas vertreten wird. Habermas bestreitet, dass Migranten und andere Minderheiten den demokratischen Verfassungsstaat vor radikal neue Aufgaben stellen – wenngleich er sich in hohem Alter auf Taylor und Kymlicka zubewegt hat. Von dieser Richtung unterscheide ich zwei Varianten der feministischen Kritik: den liberalen Feminismus, der die ungerechten Machtverhältnisse thematisiert, die in bestimmten Minderheitenkulturen vorherrschen; und den multikulturalistischen Feminismus, der die liberale Kritik teilt, sich aber auch auf die Binnenperspektive der Frauen einlässt, die von jenen Minderheitenkulturen geprägt werden und diese Prägung schätzen und verteidigen. Am Schluss diskutiere ich die eigentliche Gretchenfrage all dieser Debatten, nämlich die Frage danach, was wir überhaupt
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