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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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sinnvollerweise meinen können, wenn wir von schützenswerten Kulturen oder kulturellen Gruppen sprechen.
Warum der Multikulturalismus aus Kanada kommt
    Das Assimilationsprogramm des europäischen Nationalstaats stieß vor allem in den Kontaktzonen an seine Grenzen, die sich im Zeitalter des Kolonialismus an den Rändern des globalen westlichen Einflussbereichs bildeten. Besonders in der Tradition des britischen Liberalismus gibt es einige frühe Zeugnisse der kritischen Selbstreflexion. Ich erinnere an eine Formulierung von Edmund Burke während der Verhandlungen gegen Warren Hastings, des vormaligen britischen Generalgouverneurs von Bengalen, der in London wegen Amtsmissbrauchs angeklagt war. Am 15. Februar 1799 gab Burke in einem Plädoyer die folgende Aussage über das Verhältnis der Briten zu den Indern zu Protokoll: »We must not think to force them [the Hindus] into the narrow circle of our ideas; we must extend ours to take in their system of opinions and rites, and the necessities which result from both: all change on their part is absolutely impracticable. We have more versatility of character and manners, and it is we who must conform« (Burke 1887: 379). Burke verwarf die orientalistische Idee, dass der Despotismus eine den Indern naturgemäße Regierungsform sei, mit dem Hinweis, dass erst Briten wie Hastings den Despotismus auf dem Subkontinent eingeführt hätten. »Wir sind diejenigen, die sich anpassen müssen.« Dies war eine bemerkenswerte Einlassung, auch wenn sie im Kontext interkultureller Konflikte im Kolonialismus und nicht in der Demokratie stand und Burke eine inakzeptable Asymmetrie zwischen moralisch starrsinnigen Hindus und flexiblen Engländern unterstellte. Tatsächlich ist Burke einer der wenigen modernen Autoren, die sichzu ihrer Zeit für das Eigenrecht fremder Kulturen und Traditionen eingesetzt und ihren Zeitgenossen geraten haben, sich mit der Geschichte und den Erzählungen anderer vertraut zu machen. Unter den modernen Theoretikern des Multikulturalismus wird es später James Tully sein, der diese Bereitschaft, anderen zuzuhören , in den Mittelpunkt seiner Konzeption einer antiimperialen Demokratie rückt.
    Die Kontaktzonen, die zur Selbstreflexion über den richtigen Umgang mit kulturell Fremden Anlass gaben, entstanden nicht nur aus der Begegnung zwischen gläubigen, »weißen« Ankömmlingen und ungläubigen, anders pigmentierten Eingeborenen, sondern gelegentlich auch aus solchen zwischen europäischen Siedlern unterschiedlicher Herkunft. Eine Schlüsselerfahrung war für die britische koloniale Elite insbesondere die Schwierigkeit, nach dem Sieg über die Franzosen und der Einverleibung der seit 1763 offiziell »Quebec« genannten Provinz im Osten Kanadas die überwiegend französischsprachige Bevölkerung kulturell zu assimilieren. Der englische Historiker Vincent Harlow spricht rückblickend vom »enduring ethos of the French Canadians as expressed in language, religion and social usage« (Harlow 1964: 713). Weder Zwang noch gutes Zureden konnten diesem Ethos etwas anhaben. Die Folgen waren zwiespältig: zum einen verabschiedete das britische Parlament elf Jahre später den Quebec Act , der Zugeständnisse an die kulturelle Autonomie der Quebecer enthielt; zum anderen konnten auch Zugeständnisse nicht verhindern, dass die Quebecer mehr wollten, bis sie sich im 20. Jahrhundert schließlich, um den Titel eines späteren Bestsellers zu zitieren, als die »weißen Nigger Amerikas« (Vallièrs 1971) fühlten und das Projekt einer nationaler Befreiung in Angriff nahmen.
    Für das Verständnis der besonderen Rolle Kanadas in der Geschichte des Multikulturalismus ist jedoch noch etwas anderes wichtig. Nicht nur kanadische Regierungen haben relativ früh vom Ideal der Assimilation Abschied genommen – das haben auch die Regierungen der USA und anderer klassischer Einwanderungsländer getan. Einzigartig an Kanada ist vielmehr das Ausmaß, in dem die kanadische Gesellschaft bis in ihre Tiefenschichten hinein von der Kultur der First Nations jener Ureinwohner geprägt ist, auf die die Europäer seit den Anfängen der Neubesiedelung des Kontinents trafen. Zwar gab es selbstverständlich auch in diesem Land Versuche, die »Indianer« 16 durch einseitige Assimilation an europäische Verhaltens- und Denkgewohnheiten gefügig zu machen. So wurden seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Kinder aus den Familien von Ureinwohnern ihren Eltern weggenommen und in internatsähnliche residential

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