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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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Gruppen auch in modernen Gesellschaften besitze, noch ihre eigene uneingestandene Bindung an solche Güter explizieren könnten (ebd.: 164–174).
    Stattdessen wählt Taylor einen phänomenologischen Ansatz, der danach fragt, was aus der Perspektive der Subjekte selbst das Leben in der Gesellschaft sinnvoll macht. Die kurze Antwort auf diese Frage lautet, dass Subjekte ihre Identität durch »starke Wertungen« aufbauen. Diese Wertungen verweisen auf Zwecke, an denen sie sich orientieren und die ihnen dazu dienen, ihr eigenes Verhalten und das anderer zu bewerten. Nicht Bewusstsein, Arbeit oder Willensfreiheit definieren die menschliche Person, sondern die Bindung an Güter, von denen sie im Innersten »berührt« (ebd.: 142) wird. Starke Wertungen schlagen sich jeweils in einem »Horizont« oder »Rahmen« nieder, durch den sich Personen in wechselnden Situationen zurechtfinden, ihren Standort bestimmen und zum Ausdruck bringen, was sie gutheißen und verwerfen.
    »Wer innerhalb eines solchen Rahmens denkt, empfindet und urteilt, geht mit einem gewissen Gespür vor, wonach eine gewisse Handlung, eine Lebensweise oder eine Art zu fühlen unvergleichlich viel höheren Rang hat als die übrigen, die uns bei geringerem Aufwand zu Gebote stehen. Hier verwende ich das Wort ›höher‹ in unspezifischer Bedeutung. Das Empfinden dafür, worin der Unterschied besteht, kann verschiedene Gestalten annehmen. Es kann sein, daß eine Lebensform als erfüllter angesehen wird, eine andere Weise des Fühlens und Handelns als reiner, eine Art des Fühlens oder Lebens als tiefer, ein Lebenssstil als bewundernswerter, eine gegebene Forderung als absoluter Anspruch im Gegensatz zu anderen, die bloß relative Ansprüche stellen, usw.« (Ebd.: 44)
    Drei Aspekte dieser Formulierung möchte ich hervorheben. Zunächst ist bemerkenswert, dass Taylor vom »Gespür« und vom »Empfinden« für das Richtige und Gute spricht, gleichsam einem sechsten Sinn. An anderen Stellen ist die Rede von einem »maßgeblichen Hintergrundgefühl« (ebd.: 168), das uns immer dann beschleicht, wenn wir merken, dass wir auf etwas außerordentlich Wertvolles und Erstrebenswertes oder auf etwas anderes getroffen sind, das dieses Wertvolle im Kern bedroht.
    Zweitens unterstreicht Taylor, dass wir uns nicht von nur graduellen, sondern immer wieder auch von radikalen und qualitativen Unterscheidungen leiten lassen, wenn wir Motive, soziale Beziehungen, Ereignisse undPraktiken bewerten. Kultursoziologen in der Tradition von Durkheim drücken diesen Gedanken so aus, dass auch moderne Subjekte differenzieren zwischen dem, was »heilig«, und dem, was »profan« ist. Wir ziehen rationale Motive irrationalen und triebhaften vor; offene, kritische und freundliche Beziehungen sind uns lieber als geheimniskrämerische, unterwürfige und feindselige; regelgeleitete, egalitäre und inklusive Institutionen schätzen wir höher als willkürliche, hierarchische und exklusive. Darüber hinaus neigen wir dazu, beobachtbare Motive, Beziehungen und Institutionen dichotomisch entgegengesetzten Klassen zuzuordnen und uns über die Legitimität dieser Zuordnungen zu streiten (Alexander 2006: Kap. 4). Die Art, wie wir diese Unterscheidungen nach Regeln treffen, die für lange Zeit stabil bleiben und unser Verhalten steuern, enthüllt uns und anderen, wer wir sind .
    Drittens deutet Taylor an, dass wir nicht einfach subjektive Standards auf vorgefundene Situationen anwenden oder projizieren, sondern im Bann von Maßstäben urteilen, über die wir nicht beliebig verfügen können. Bestimmte Zwecke, Verhaltensweisen und Phänomene, die Taylor »Hypergüter« nennt, kommen uns so vor, dass wir ihnen »unbedingt die Treue halten müssen« (Taylor 1996: 204), um uns nicht selbst zu verlieren. Hier kommt der Katholizismus Taylors ins Spiel. Bestimmte Maßstäbe erlauben uns zu sehen, dass etwas gut ist, etwa so wie »Gott sah, dass es gut war« (Genesis 1:10), was er geschaffen hatte. Profan ausgedrückt wirken starke Wertungen wie Metapräferenzen, die uns vor Augen halten, was wir eigentlich anstreben sollten. Die Hypergüter, auf die sich diese Wertungen beziehen, können moralischer, religiöser oder auch ästhetischer Natur sein. Wichtig ist, dass wir uns nicht aussuchen können, überhaupt Hypergüter zu haben oder nicht. Vielmehr würden wir ohne die Fähigkeit, im Licht solcher Güter qualitative Unterscheidungen zu treffen und uns an ihnen zu orientieren, unter dem Eindruck leiden, das

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