Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
eingeschrieben sind.
Authentizität statt Assimilation: Taylor
Die Äquivalenz von Indigenen und Einwanderern findet sich auch bei dem kanadischen Philosophen und politischen Theoretiker Charles Taylor, dem international wohl bekanntesten Vordenker eines demokratischen Multikulturalismus. Der in Montreal geborene, zweisprachig aufgewachsene Taylor zögert nicht, seine Quebecer Landsleute in einem Atemzug mit Indianerstämmen wie den Cree zu nennen, wenn es darum geht, die kanadische Idee einer nicht länger skandalösen, sondern normal gewordenen Vielfalt von Subnationen innerhalb einer konföderalen politischen Einheit zu verteidigen (vgl. zum Beispiel Taylor 1994: 183). In seinen verstreuten politischen Schriften verwendet Taylor das geläufige Bild vom »multikulturellen Mosaik« der kanadischen Gesellschaft, das er im Gegensatz zum euro-amerikanischen Konzept eines nationalkulturellen Schmelztiegels oder einer einheitsstaatlichen »Zwangsjacke« (ebd.) verstanden wissen möchte. Bei einem Mosaik bleibt jedes Steinchen als solches erhalten und wirkt doch als Teil eines größeren Bilds ganz anders als isoliert betrachtet. Taylor stellt sich Quebecer, Anglokanadier, Ureinwohner und Zuwanderer so vor, dass sie alle im selben Maße , aber auf sehr unterschiedliche Weise zu Kanada gehören. Diese unterschiedlichen Modi der Zugehörigkeit erwachsen aus den je spezifischen Berührungspunkten zwischen Herkunftskulturen und der sich entwickelnden Kultur Kanadas als einer im Grunde nicht länger »westlichen«, am Vorbild Europas geschulten Gesellschaft.
Die politischen Überlegungen Taylors zur Lage seines Landes sind nicht nur gegen die Tendenz einer etatistischen Vereinheitlichung gerichtet, sondern ebenso gegen die bis heute virulente separatistische Strömung in Quebec. Einerseits soll sich das moderne Streben nach authentischem Selbstausdruck von Einzelnen und Kollektiven, das eine zentrale Rolle in seiner politischen Philosophie spielt, nicht zum Separatismus auswachsen. Andererseits möchte er ebenso wenig die Anerkennung von Personen und Gruppen als einen Prozess der wechselseitigen Angleichung von Realitätsdeutungen und normativen Orientierungen verstanden wissen. Nahegelegt wird der Schluss, dass die Loyalität einer renitenten Provinz gegenüber der Zentralregierung nur um den Preis einer deutlichen Dezentralisierung zu haben ist. Eine solche Dezentralisierung wiederum führt nur dann nicht zum Zerfall der politischen Einheit, wenn alle Bürger und Regionen das Gefühl haben, untereinander und bei der Zentralregierung Gehör zu finden. Eine Besonderheit von Taylors Demokratietheorie kann man darin sehen, dass sie die Einheit des liberalen Gemeinwesens nicht nur an die gleichberechtigte Freiheit der Rede bindet, sondern mehr noch an die Bereitschaft und Fähigkeit aller, den jeweils anderen auch zuzuhören (Taylor 1998). Taylors Überlegungen zum Charakter des kanadischen Föderalismus verweisen direkt auf seine Konzeption des Multikulturalismus, aber auch auf seine gesamte Theorie, die von Anfang an um das Problem der Quellen und des Umgangs mit moralischer und politischer Vielfalt kreist. Im Folgenden möchte ich mit wenigen Strichen skizzieren, wie Taylors Multikulturalismus in seiner allgemeinen Philosophie verankert ist.
Identität durch »starke Wertungen«
Das Nachdenken über den Multikulturalismus ist für Taylor ein Aspekt des Nachdenkens über die Form einer guten Gesellschaft. Um Kriterien für die Güte einer Gesellschaft zu entwickeln, bieten sich zwei Methoden an. Man kann von der objektiven Bedürfnisnatur des Menschens ausgehen und daraus Anforderungen an gesellschaftliche Strukturen ableiten, oder man kann solche Anforderungen durch kontrafaktische Gedankenexperimente begründen, bei denen ein normschöpferischer Naturzustand oder ein herrschaftsfreier Diskurs unterstellt werden. In dem 1989 erstmals erschienenen Buch Quellen des Selbst lehnt Taylor die erste dieser beiden Optionen ab, weil der »Aufklärungsnaturalismus«, wie er ihn nennt, ungeprüft davon ausgehe, dass alle Menschen im Prinzip dasselbe wollten und in ihrem homogenen Streben nach irdischem Glück nur durch Selbsttäuschung und Manipulation behindert würden (Taylor 1996: 644). Die Alternative, die mit Namen wie John Rawls oder Jürgen Habermas verbunden ist, weist Taylor ebenfalls zurück, weil diese Philosophen weder die Bedeutung verstünden, die das Streben nach kulturell stark gewerteten Gütern für Personen und
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