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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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einzustellen, mit tiefen Differenzen geschmeidig umzugehen und sich kontextsensibel unterschiedlicher kultureller Codes zu bedienen.
    In Kanada, so die These, beobachten wir die allmähliche Verwandlung der Notwendigkeit, mit der Urbevölkerung zu kooperieren, in eine Tugend der Offenheit gegenüber Fremden und Neuankömmlingen. Auch wenn der patriotische Intellektuelle Saul gelegentlich mehr predigt als argumentiert, kreist sein Diskurs um einen realen Unterschied zwischen der kanadischen und der amerikanischen (und erst recht der europäischen) Erfahrung. Kanada war zunächst gerade keine Einwanderungsgesellschaft wie die Vereinigten Staaten, sondern ein Land, das aufgrund seiner geografischen Lage und Eigenart vergleichsweise wenig Einwanderer anzog, von denen immer wieder viele, besonders aus dem kalten Osten, in Richtung USA weiterwanderten. Die Vereinigten Staaten sind eine offene Gesellschaft, die von Siedlern und Einwanderern erst aus Europa und dann aus der ganzen Welt gleichsam geflutet wurde, während in Kanada die Kräfteverhältnisse zwischen den isolierten und zahlenmäßig schwachen Siedlerkolonien und den indianischen Ethnien die Gründung einer rückstandslos neo-europäischen Gesellschaft gar nicht zuließen. 18 Es ist richtig zu sagen, dass die Idee des Multikulturalismus eng mit der Geburt von modernen Einwanderungsgesellschaften zusammenhängt. Ebenso plausibel ist allerdings auch die These, dass die spezifische Erfahrung der Nichteliminierbarkeit der Ureinwohner – zusammen mit der späteren Erfahrung der Nichteliminierbarkeit und Unbeherrschbarkeit der frankophonen Bevölkerung – einer der Gründe dafür ist, warum gerade in Kanada so viel über Multikulturalismus nachgedacht worden ist, und zwar mit beeindruckenden politischen und sozialen Konsequenzen. Kanada lässt sich als eine politische Gemeinschaft imaginieren, an deren Ursprung der Bruch mit der »naturhaften Homogenität« des europäischen Nationalstaats steht sowie der Versuch, um mit Derrida zu sprechen, »eine ›ursprüngliche‹ Heterogenität zu markieren, die stets schon hereingebrochen ist« (Derrida 2000: 156).
    Diese ursprüngliche Heterogenität hat Kanada im Vergleich zu den homogenen Staaten Westeuropas einen großen Vorsprung bei der Etablierung einer multikulturellen Gesellschaft verschafft (vgl. Winter 2010). Allerdings hat sich in der Folge im kanadischen Denken eine merkwürdige und keineswegs unproblematische moralische Gleichsetzung zwischen Ureinwohnern und Migranten, Eingeborenen und Hinzugekommenen eingeschlichen. Auch Saul stellt eine Verbindung her zwischen der trotz aller Rückschläge über die Jahrhunderte gepflegten Beziehung zwischen zugewanderten Kanadiern und Ureinwohnern und der Offenheit des Landes für immer neue Einwanderergruppen. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine viel zitierte programmatische Rede des früheren kanadischen Premierministers Wilfrid Laurier aus dem Jahr 1905, auf die auch Saul zurückgreift. Diese Rede enthält Kernsätze, die zentrale Elemente des kanadischen Multikulturalismus vorwegnehmen. Zunächst sagt Laurier, dass kein Individuum das Land seiner Herkunft vergessen soll. Dies ist eine Kampfansage an jedes Konzept einer substitutiven Akkulturation, das heißt einer vollständigen Ersetzung der primordialen Eigenschaften und Fähigkeiten von Einwanderern und Eingeborenen durch neue, moderne Merkmale. Außerdem formuliert Laurier in Anspielung auf die Geschichte aus dem Matthäus-Evangelium über die Arbeiter im Weinberg eine kleine politische Theologie des Multikulturalismus: »Kanada ist in gewisser Hinsicht das Himmelreich. Diejenigen, die erst zur elften Stunde kommen, werden genauso behandelt wie jene, die schon lange auf dem Feld sind« (zit. nach Saul 2008: 145). Die Letzten werden die Ersten s ein , predigt Matthäus. Das bedeutet im kanadischen Kontext, dass die alteingesessenen Bewohner des Landes keine Rechte haben, in deren Genuss nicht auch jetzige und künftige Zuwanderer kommen können, sobald sie das »Feld« und »Himmelreich« betreten. Vor dem Hintergrund meiner knappen Lektüre des Buches von Saul hat der Satz aber auch noch eine weitere Bedeutung. Die Letzten werden die Ersten sein in dem Sinne, dass die zugewanderten Italiener, Polen, Ukrainer oder Chinesen wie jene Indianer betrachtet werden sollen, auf deren Kooperation die ersten Zuwanderer angewiesen waren und deren Widerstand und Hilfe tief in das nationale Gedächtnis des Landes

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