Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
geschehen. Zuerst biete ich eine Lektüre seines älteren Kommentars zu Taylors klassischem Essay über Multikulturalismus als Politik der Anerkennung, der von einer deutlichen Abwehrhaltung geprägt ist. Im Anschluss daran diskutiere ich Habermas’ erneute Annäherung an dasselbe Problem, die durch sein spätes Interesse an der Rolle von Religion in der demokratischen Öffentlichkeit motiviert ist.
Kritik des Multikulturalismus
In dem Aufsatz »Kampf um Anerkennung im demokratischen Rechtsstaat« lautet der Schluss, dass Taylor »den individualistischen Kern des modernen Freiheitsverständnisses in Frage« stelle, weil er den Schutz der individuellen Rechtsperson in einen künstlichen Gegensatz zur Bewahrung kollektiver Lebensformen bringe und in bestimmten Konfliktfällen der Gemeinschaft den Vorrang vor dem Individuum einräume (Habermas 1996b: 239). Taylors Paradebeispiel ist der Sonderstatus der Provinz Quebec, die in Kanada als distinkte Nation innerhalb des Staatsverbandes anerkannt ist mit der Folge, dass nicht nur Einwanderer, sondern auch einheimische Eltern ungeachtet ihrer sprachlichen Präferenzen im Normalfall gezwungen sind, ihre Kinder auf französischsprachige Schulen zu schicken. Diesem Hinweis auf einen Konflikt zwischen individuellen Selbstbestimmungsansprüchen und kollektivem kulturellen Zwang, der immer wieder durch die Abwanderung von englischen Muttersprachlern in die anderen Provinzen des Landes gelöst wird, begegnet Habermas mit einem demokratietheoretischen Argument. Taylor verstehe nicht, so Habermas, dass Rechtsstaat und Demokratie gleichursprünglich seien und sich in modernen Rechtsstaaten die Adressaten von Gesetzen stets auch als deren Autoren verstehen können müssten (ebd.: 242, 251). Habermas versucht auf diese Weise, ein empirisches Argument durch ein metatheoretisches zu entkräften. Anstatt sich auf den realen Konflikt einzulassen, leugnet ihn Habermas.
In einem nächsten Schritt akzeptiert der deutsche Philosoph die von Kymlicka betonte partikulare ethische Einfärbung auch des liberalen Staates. Die zufällige und im historischen Längsschnitt fluktuierende »Zusammensetzung der Staatsnation« (ebd.: 255) führt dazu, dass der Staat in einigen seiner Handlungsfelder ein nicht minder zufälliges Gesicht ausbildet, in dem sich nicht alle gleichermaßen wiedererkennen. Habermas schreibt:
»Und natürlich berührt die Wahl der Amtssprache oder die Entscheidung über das Curriculum öffentlicher Schulen das ethische Selbstverständnis einer Nation. Weilethisch-politische Fragen ein unvermeidlicher Bestandteil der Politik sind und weil entsprechende Regelungen die kollektive Identität der Staatsbürgernation zum Ausdruck bringen, können sich an ihnen Kulturkämpfe entzünden, in denen sich mißachtete Minoritäten gegen eine unempfindliche Mehrheitskultur zur Wehr setzen.« (Ebd.: 254f.; meine Hervorhebung)
Wo diese Minoritäten über ein eigenes Siedlungsgebiet verfügen, bieten sich bei der Entschärfung dieserKulturkämpfe innovative föderalistische Lösungen an, wie sie Kanada und andere Staaten praktizieren. Schwieriger wird es, wenn Staatsvölker stärker durchmischt sind, neue Minderheiten auftauchen oder sich einzelne Bevölkerungsgruppen kulturell neu erfinden. Auch für solche »multikulturellen Gesellschaften« (ebd.: 257) behauptet Habermas, dass gar keine besondere institutionelle Phantasie nötig sei, um die Gleichberechtigung der verschiedenen Gruppen und Strömungen zu gewährleisten. Der Multikulturalismus schafft keinen Ausnahmezustand, der die Einführung neuer rechtlicher Regeln und Prinzipien erzwingen würde, die über den normalen demokratischen Rechtsstaat und seine Garantie der Assoziations- und Kommunikationsfreiheit hinausweisen. Der Rechtsstaat ist vollkommen vereinbar mit Statusgarantien, Selbstverwaltungsrechten, maßgeschneiderten Antidiskriminierungsmaßnahmen und Subventionen für benachteiligte Gruppen aller Art. Habermas scheint sich hier auf die Seite Kymlickas zu schlagen, den er ausdrücklich zitiert. Allerdings möchte er die rechtlichen Verpflichtungen des Staates gegenüber diskriminierten Minderheiten und kulturellen Lebensformen viel stärker als Kymlicka von der »allgemeinen Wert schätzung« (ebd.: 258) ablösen, die diesen Gruppen oder Kulturen von der Mehrheitsgesellschaft entgegengebracht wird. Außerdem sollen die rechtlichen Verpflichtungen nicht die Gewährung von »Gruppenrechten« (ebd.: 259) einschließen, wobei
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