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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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Unterscheidung von inneren und äußeren Aspekten des Soziallebens von kulturellen Gruppen lässt dem Staat und der Mehrheitsgesellschaft nur die Wahl zwischen einer hochgradig begründungsbedürftigen »Intervention« in die inneren Angelegenheiten der jeweiligen Gruppe oder wohlmeinenden Ratschlägen bei gleichzeitigem Interventionsverzicht. Gegen diese schiefe Analogie argumentiert Shachar für eine Aufweichung der Unterscheidung von innerenund äußeren Aspekten des Gruppenlebens und die Ersetzung des Vokabulars der Intervention durch ein Vokabular der »Interaktion« (Shachar 2001: 37–40).
    Einwanderergruppen und andere Minderheiten gestalten demzufolge ihr Leben immer schon in engem Austausch mit Einheimischen und der Mehrheitskultur. Das Verhalten der Angehörigen von minorisierten kulturellen Gruppen ist nicht unabhängig davon, wie offen und responsiv sich die übrige Gesellschaft verhält. Auch die Vorstellung, überhaupt einer homogenen minoritären »Kultur« anzugehören, ist bereits eine Verarbeitungsform der Wahrnehmung einer feindlichen Umwelt, gegen die man glaubt, sich behaupten zu müssen. Das, was Außenstehende als fremde oder allzu fremde Kultur kategorisieren, ist nach Shachar oftmals erst das Produkt eines »reaktiven Kulturalismus«, der so funktioniert, dass sich orthodoxe Juden, traditionalistische Muslime oder evangelikale Christen mit einer integralen Weltanschauung gegen die Außenwelt zur Wehr setzen, indem sie ihre heiligen Texte wortwörtlich nehmen, ihre tradierten Gesetze und Normen besonders restriktiv auslegen und das Verhalten ihrer Mitglieder besonders streng überwachen. Diese Tendenz wiederum geht häufig und keineswegs zufällig zu Lasten von Frauen, die als Symbole der »authentischen« Identität der Gruppe idealisiert und damit zugleich einem besonderen Konformitätsdruck durch zumeist männliche Wortführer ausgesetzt werden (ebd.: 35–37). Politisch brisant wird diese gesamte Entwicklung spätestens dann, wenn muslimische Verbände in Ländern wie Kanada oder Großbritannien erklärtermaßen das Ziel verfolgen, für die Regelung von familienrechtlichen Streitfällen religiöse Schiedsgerichte auf der Grundlage des islamischen Religionsgesetzes, der Scharia, einrichten zu dürfen.
    Nun ist offensichtlich, dass etwas faul ist an einem Multikulturalismus, der die Authentizitätsbehauptungen solcher Gruppen unkritisch akzeptiert, ihre Wortführer und Repräsentanten unbesehen bestätigt und eine Politik der Nichteinmischung in ihre inneren Angelegenheiten als moralischen Fortschritt ausgibt. Shachar bewegt sich auf die Positionen eines liberalen Feminismus zu, indem sie es ablehnt, die drohende Zementierung der untergeordneten Rolle von Frauen in orthodox-religiösen Gemeinschaften als ein unvermeidliches Übel multikultureller Gesellschaften hinzunehmen. Gleichzeitig entfernt sie sich jedoch vom liberalen Feminismus, weil sie annimmt, dass widerstrebende Gruppen auf die zwangsweise Durchsetzung liberaler und säkularer Normen mit Rückzug und Ausbildung eines kulturellen Panzers reagieren.
    Um dieses Dilemma aufzulösen, hat Shachar mit Blick auf die in einigen Ländern zu beobachtende Tendenz zur Einführung Scharia-konformer privater Streitschlichtung die einflussreiche Idee der » transformative accommodation « entwickelt. Darunter versteht sie institutionelle Arrangements, die zweierlei leisten sollen: Zum einen soll es bestimmten Minderheiten leichter gemacht werden, durch die staatliche Anerkennung von religiösen Schiedsgerichten mit genau festgelegten Kompetenzen ihre Identität aufrecht zu erhalten und das Vertrauen vor allem von Muslimen in die demokratische Rechtsordnung zu stärken; diese Zugeständnisse sollen jedoch mit institutionellen Anreizen kombiniert werden, die eine Transformation dieser Minderheiten zugunsten einer stärkeren Berücksichtigung der Rechte von Frauen (oder anderen Untergruppen) begünstigen. Spiegelbildlich zu ihrer Annäherung an die Positionen eines liberalen Feminismus bewegt sich Shachar somit auf die Positionen von religiösen Verbänden zu, die eine eigene Rechtsprechungskompetenz bei bestimmten Zivilstreitigkeiten im Bereich des Personenstands- und Familienrechts beanspruchen. Gleichzeitig entfernt sie sich von den orthodoxen Verteidigern von Rabbinatsgerichten oder Scharia-Schiedsgerichten in Kanada, Großbritannien, den arabischen Wohngebieten Israels und anderswo, und zwar genau in dem Maße, wie diese sich dagegen

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