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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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sträuben, ihre Kompetenzen mit weltlichen Instanzen zu teilen und sich dadurch dem Einfluss gruppenexterner, außerreligiöser Instanzen auszusetzen. Shachars Modell sieht vor, dass multikulturelle Demokratien bestimmte juristische Entscheidungsbefugnisse in Angelegenheiten, die für die Selbstdefinition von religiösen Minderheiten zentral sind, zwischen diesen und dem säkularen Staat aufteilen, etwa so, wie in föderalen Systemen die gemeinsame Regierungsgewalt zwischen unterschiedlichen Körperschaften aufgeteilt wird. Teilung der Rechtsgewalt heißt, dass denjenigen, die die Gerichte anrufen, klar strukturierte Verfahrensalternativen vorgestellt werden; dass weder die entsprechende Minderheit noch der Staat ein vollständiges Monopol auf die Rechtsprechung haben, so dass säkulare und religiöse Autoritäten um das Vertrauen von Rechtssuchenden wetteifern müssen; und dass die Entscheidungsmaterien geteilt werden, etwa in der Weise, dass religiöse Gerichte über Personenstandsfragen entscheiden, nicht aber über die damit sachlich verknüpften Verteilungsfragen, zum Beispiel im Erbrecht (ebd.: Kap. 6).
    Ähnlich wie Kymlickas Multikulturalismus zielt Shachars normativer Entwurf nicht auf eine Utopie, sondern auf einen Gesellschaftszustand, der als behutsame Fortsetzung und Formalisierung von Tendenzen verstanden werden kann, die ohnehin längst wirksam sind. So gibt es auch in Deutschland orthodoxe und nichtorthodoxe Rabbinatsgerichte, die das jüdische Religionsgesetz, die Halacha, anwenden. Diese Gerichte sind für solche Fragen zuständig, bei denen es darum geht, zu bestimmen, wo die Grenzen der Gemeinschaft verlaufen, wer jüdisch ist und wer nicht, wie man diesen Status, jüdisch zu sein, aufrechterhält und weitergibt, etwa durch Konversion, religiöse Heirat und korrekte religiöse Scheidung, aber auch durch die Einhaltung ritueller Vorschriften, die nur möglich ist, weil es von Rabbinern ausgestellte Koscher-Zertifikate für Lebensmittel und Restaurants gibt. Vergleichbare schiedsgerichtliche Funktionen werden informell auch von muslimischen Verbänden übernommen, die das islamische Religionsgesetz anwenden. 28
    Größere Überzeugungskraft gewinnen diese Gedankenspiele erst mit der Betrachtung realer empirischer Fälle, durch die sich die Juristin Shachar von ihren Kolleginnen aus dem Feld der idealen politischen Theorie wohltuend unterscheidet. So zeigt Shachar (2007) am Beispiel Israels, wie sich seit dem Beginn der 1990er Jahre ein interessantes Zusammenspiel entwickelt hat zwischen den halbautonomen Familiengerichten der Juden, Muslime, Christen und Drusen des Landes und der territorialen Gerichtsbarkeit des Staates Israel. Die nach Religionsgemeinschaften differenzierten Familiengerichte haben einen Teil ihrer früheren Selbstständigkeit verloren, ohne jedoch vollständig einer einzigen säkularen Rechtsquelle, etwa nach dem Vorbild des Bürgerlichen Gesetzbuchs, unterworfen zu werden. Dafür gibt es natürlich Gründe, die Shachar nicht diskutiert und die damit zusammenhängen, dass Israel gar kein säkularer Staat im europäisch-amerikanischen Sinne sein will. Worauf es hier jedoch ankommt, ist lediglich das Argument, dass unter bestimmten Umständen das institutionelle Design einer arbeitsteiligen Rechtsprechung den internen Pluralismus religiöser Gemeinschaften belebt und eine gemäßigte Neuinterpretation religiöser Rechtstraditionen begünstigt (ebd.: 134f.).
    Ob diese anspruchsvolle Hypothese für eine Vielzahl von Fällen und Situationen tatsächlich belegt werden kann, bleibt bis auf Weiteres offen. Shachar selbst hat jedenfalls in einem spektakulären Streit um die Einrichtung islamischer Schiedsgerichte in der kanadischen Provinz Ontario, der 2003 ausbrach, mit Einschränkungen die Position der muslimischen Antragsteller unterstützt, die mit ihrem Vorstoß gescheitert sind (ebd.: 136–145). Zu diesem Scheitern haben nicht zuletzt kanadische Musliminnen beigetragen, obwohl es sehr wohl auch weibliche Unterstützer einer ergänzenden islamischen Gerichtsbarkeit gab (vgl. Boyd 2013: 181). Generell ist Shachar auch von wohlwollenden Kritikern vorgeworfen worden, zu gleichgültigzu sein gegenüber den praktischen Schwierigkeiten der Teilung der rechtsprechenden Gewalt zwischen säkularen und religiösen Autoritäten und der Herstellung eines effektiven Wettbewerbs um das Vertrauen von Rechtssuchenden. Kann man sich Bedingungen vorstellen, unter denen konservative muslimische

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