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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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die Menschenrechte, um ihr vorgeschlagenes Modell der Integration von Migranten in Quebec unanfechtbar zu machen; sie legen zugleich den Umkehrschluss nahe, dass das französische Modell aus der kanadischen Perspektive schlicht menschenrechtswidrig sei.
    Fragwürdig ist in ihren Augen ein Konzept des Säkularismus, das die gebotene Neutralität des Staates missversteht als Aufforderung, den öffentlichen Raum von allen religiösen Bekundungen und Bezügen zu reinigen. Falsch ist bereits die Raummetaphorik, die übersieht, dass es auch in öffentlichen Institutionen regelmäßig zu äußerst privaten Momenten kommt, die religiösen Beistand erfordern können, etwa wenn Menschen in öffentlichen Krankenhäusern sterben (Bouchard und Taylor 2008: 143). Systematisch wichtiger sind allerdings zwei andere Argumente: erstens das Argument, dass sich das pauschale Verbot, religiös deutbare Kleidungs- oder Schmuckstücke zu tragen, negativ auf den Zugang zu Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst auswirken kann; und zweitens das Argument der Gewissensfreiheit. Die Gewissensfreiheit schützt die »expressiven Handlungen eines Individuums« (ebd.: 145) wie das Zeigen religiöser Symbole, und sie billigt allein den Individuen zu, die Bedeutung solcher Handlungen zu ermessen. Der schwerwiegendste Fehler des restriktiven Säkularismus ist jedoch, dass er gegen das weltanschauliche Neutralitätgebot verstößt, weil er zwar alle religiösen Zeichen gleichermaßen verbietet, aber gerade dadurch jene Individuen bevorzugt, deren Überzeugungen und Gewissensgründe keine äußeren Zeichen verlangen (ebd.: 148).
    Wie generell in der Philosophie Taylors, ist auch bei dieser Argumentationskette der Ausgang vom Subjekt maßgebend. Tief verankerte moralische oder religiöse Überzeugungen von Einzelnen und Gruppen ziehen die Pflicht gesellschaftlicher und staatlicher Institutionen nach sich, dem öffentlichen Ausdruck dieser Überzeugungen Freiräume zu verschaffen, solange die Budgets der betreffenden Organisationen nicht überfordert und die öffentliche Sicherheit oder die Rechte anderer nicht beeinträchtigt werden. In dem Augenblick, in dem der Staat bestimmte Ausdrucksformen des individuellen Gewissens dadurch unterbindet, dass er zum Beispiel das Tragen von Hijabs oder andere Praktiken verbietet, verletzt er das weltanschauliche Neutralitätsgebot sowie »die Prinzipien des gleichen Respekts für alle Bürger und der Gewissensfreiheit« (ebd.: 138). Im direkten Gegensatz zu den Empfehlungen der Commission Stasi plädieren Taylor und Bouchard folgerichtig für einen »offenen« Säkularismus, der den assimilatorischen Übergriff des Staates auf abweichende »soziale Sitten [ social mores ] und die Lebensführung« von Minderheiten für ebenso unzulässig erklärt wie den paternalistischen Anspruch, die religiöse oder sonstige »Bedeutung« von sozialen Sitten zu kennen, ohneden Personen zugehört zu haben, die diese Sitten verkörpern und praktizieren (ebd.: 135, 145).
Multikulturelle Kasuistik
    Die Häufung der Konflikte zwischen Einwanderern und Einheimischen oder zwischen Angehörigen der Mehrheit und religiösen Minderheiten in Quebec sind für Taylor und Bouchard einzelne Stromschnellen im ansonsten ruhigen Fluss geräuschloser Konfliktbewältigung. Rechtsstreitigkeiten um religiös begründete Ausnahmeregelungen für Minderheiten sind außerordentlich selten im Vergleich zur weitaus größeren Zahl derjenigen Fälle, in denen die Parteien außergerichtliche und informelle Kompromisse (»concerted adjustments«) anstreben. Aus der Sicht von Taylor und Bouchard ist dies der bessere Weg. Wie Tocqueville, der beiläufig zitiert wird, glauben die beiden Autoren, dass die Freiheit weniger auf dem Gesetz beruht als auf bestimmten liberalen Sitten und Umgangsformen.
    Ich nenne einige Beispiele von Konflikten, die in jüngerer Zeit in den Schulen und Krankenhäusern Quebecs aufgetreten sind: Schüler oder ihre Eltern, etwa aus der Gemeinschaft der Inuit, haben Sondergenehmigungen beantragt, eine andere Sprache als Französisch lernen oder sprechen zu dürfen, an religiösen Feiertagen schulfrei zu bekommen oder im Kunstunterricht als anstößig empfundene Motive, etwa aus Anlass von Halloween, nicht zeichnen zu müssen. Muslimische Schülerinnen sind im Unterricht auch gegen den Rat lokaler Imame mit Niqabs aufgetaucht (die ihr gesamtes Gesicht bis auf einen Augenschlitz verhüllen) oder haben verlangt, dass vor dem Schwimmunterricht

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