Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
ebenso wie die jüdischen – nach eigener Auskunft angstfrei leben und weitaus weniger Sicherheitsvorkehrungen treffen als vergleichbare Einrichtungen in Europa. Die Stärke des gruppenübergreifenden sozialen Bandes wird auch durch die folgende Anekdote illustriert. Im Februar 2007 reagierte eine Gruppe junger, traditionell gekleideter Musliminnen in Montreal auf die negative Medienberichterstattung über Hérouxville mit Anteilnahme für die unter Islamophobie-Verdacht gestellte Gemeinde und beschloss, dem Ort einen Besuch abzustatten. Die Besucherinnen brachten Süßigkeiten mit und wurden nicht nur freundlich und teilweise – von einigen Frauen von Hérouxville – mit Tränen empfangen, sondern hatten auch ein Treffen mit dem Gemeinderat, das von muslimischer Seite als »erfolgreich« bewertet wurde und zum Abbau der Spannungen beitrug (Canadian Islamic Congress 2007; Johnston 2011).
Offener Säkularismus
Die Hérouxville-Affäre entfaltete sich in einem kulturellen Resonanzfeld, das eine Reihe von Merkmalen aufwies. Dazu gehörte das Gefühl der terroristischen Bedrohung durch radikale Islamisten, ein Unbehagen an gewissen juristischen Auswüchsen des offiziellen Multikulturalismus, die teilweise durch Falschmeldungen geschürte Medienhysterie über den Vormarsch muslimischer Sitten in der kanadischen Gesellschaft sowie die stets virulenten nationalen Identitätsängste der Quebecer, die sich selbst als eine bedrohte Minderheit im kanadischen Staatsverband sehen und aus diesem Grund den von der Zentralregierung in Ottawa gepflegten Multikulturalismus als trojanisches Pferd der Angelsachsen ablehnen. Vor allem die beiden letztgenannten Merkmale des Resonanzfeldes sind explizit zum Thema der Bouchard-Taylor-Kommission gemacht worden.
Taylor und Bouchard reagieren auf eine Entwicklung, in deren Verlauf sich »reasonable accommodation« von einem Rechtsgrundsatz der Quebecer Menschenrechtscharta und anderer Dokumente zum Stichwort eines umfassenden sozialen Diskurses über die Grenzen erlaubter Sitten und Gewohnheiten von Minderheiten gewandelt hat. In seiner ursprünglichen Bedeutung verpflichtet der Rechtsgrundsatz der »reasonable accommodation« Arbeitgeber, Schulen oder Verkehrsbetriebe dazu, im Rahmen ihrer Möglichkeiten besondere Vorkehrungen zu treffen, um zum Beispiel den spezifischen Bedürfnisssen von Schwangeren, Rollstuhlfahrern oder »soziokulturellen« Minderheiten Rechnung zu tragen (Bouchard und Taylor 2008: 63). Es handelt sich, mit anderen Worten, um eine juristische Vorkehrung zur Herstellung von Chancengleichheit und zur Abwehr von Diskriminierung.
Außerdem führen Taylor und Bouchard eine regionale Dimension in die Debatte über Einwanderung und Multikulturalismus ein. Ihr Bericht liest sich wie eine behutsame Selbstkritik des kanadischen Multikulturalismus zugunsten eines vagen »Interkulturalismus«. Der Provinz Quebec wird ein besonderes Recht eingeräumt, ihre im Kampf gegen die katholische Kirche und die anglo-kanadischen Repräsentanten des britischen Empire erkämpfte nationale Identität zu schützen und den Gedanken einer gemeinsamen öffentlichen Kultur in den Vordergrund zu rücken. Der Bericht erlaubt eine Lesart, die der kanadischen Minderheit der Quebecer zugesteht, von den lokalen Minderheiten innerhalb Quebecs etwas mehr Anpassung zu verlangen als in den anderen kanadischen Provinzen legitim wäre. Diese Argumentation ist nicht unproblematisch, weil sie suggeriert, dass großzügige multikulturelle Arrangements ein Privileg von Nationen sind, die historisch fest im Sattel sitzen und von keinerlei Identitätszweifeln geplagt werden. Generell kann man feststellen, dass Taylor stärker als in seinen älteren Beiträgen zum Thema Multikulturalismus die Notwendigkeit hervorhebt, die soziale Kohäsion der modernen Gesellschaften vor Desintegrationstendenzen zu schützen (vgl. Taylor 2010).
Während die Kritik am Multikulturalismus im Namen des »Interkulturalismus« wie ein rhetorisches Zugeständnis an das nationale Distinktionsbedürfnis der Quebecer klingt, ist die Polemik gegen das Assimilationsmodell und den »rigiden« und »restriktiven« Säkularismus der Französischen Republik konsistent und radikal. In diesem Zusammenhang bringen die Kanadier die Figur der Menschenrechte gegen die auf dem europäischen Kontinent vorherrschenden Modelle der kulturellen Integration von Migranten und ethnischen Minderheiten in Stellung. Nicht nur berufen sich Taylor und Bouchard auf
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