Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
entscheiden, ihre Meinung sagen, sich im Rahmen allgemein akzeptierter Anstandsregeln und der Normen öffentlicher Sicherheit kleiden dürfen, wie sie wollen, spazieren gehen, studieren, einen Beruf oder ein Gewerbe ausüben, Eigentum besitzen und darüber verfügen dürfen, wie es ihnen gefällt. All dies ist Teil unserer Sitten [ coutumes ] und unserer erworbenen Rechte.« (MunicipalitédeHérouxville 2007)
Außerdem wurde darauf hingewiesen, dass die Bürger von Hérouxville »zum Jahresende einen Baum mit Kugeln, Lametta und einigen Lichtern schmücken«, ihn »Weihnachtsbaum« nennen und die entsprechenden privaten und öffentlichen Feierlichkeiten als Teil ihres nationalen Erbes verstehen (ebd.).
Die Veröffentlichung des Verhaltenskodex, der bald darauf von einigen Nachbargemeinden kopiert wurde, entwickelte sich rasch zu einem Schlüsselereignis der jüngeren Debatte über die gebotenen Zugeständnisse an die kulturellen Gewohnheiten von nichteuropäischen Einwanderern in Quebec und Kanada. Schon nach wenigen Wochen war von der »Hérouxville-Affäre« die Rede, über die weltweit Zeitungen berichteten. Die Nachrichten aus dem kleinen Ort erregten das Publikum, weil sie weder zu den kollektiven Selbst- und Fremdwahrnehmungen von Kanadiern und Nichtkanadiernpassten noch zu den statistischen Indikatoren, die Kanada regelmäßig als eines der weltoffensten und tolerantesten Länder der Welt ausweisen. 33 Ich beschränke mich an dieser Stelle auf zwei Beobachtungen:
Der Text des Verhaltenskodex wird strukturiert durch die starre Gegenüberstellung zwischen den zu schützenden Gütern des lokalen und nationalen kulturellen Erbes und der vertrauten normes de vie auf der einen Seite und der Bedrohung dieser Güter durch potenzielle Neuankömmlinge und das kulturell Ungewohnte auf der anderen Seite. Der Sakralisierung des Eigenen entspricht die Verteufelung des Fremden. Diese Opposition wird allerdings, und das ist das Besondere, in den Begriffen einer lokal angepassten und politisierten Menschenrechtsrhetorik formuliert. Die Beachtung der Menschenrechte erscheint als eine tief verwurzelte lokale Gewohnheit, die von außen bedroht wird, und zwar durch Einwanderer, aber auch durch das Redemonopol und die Interpretationshoheit der »Politiker« und »Bürokraten« in den Städten. Lokale Menschenrechtsaktivisten in Montreal und anderen Orten reagierten prompt auf den Verhaltenskodex, indem sie Hérouxville als symptomatisch rassistisch und islamophob anschwärzten. Ohne diese Charakterisierung gänzlich zurückzuweisen, behaupte ich jedoch, dass wir das Phänomen genauer beschreiben, wenn wir von einer Legierung von ethnozentrischer Selbstbehauptung mit Elementen eines Menschenrechtsdiskursessprechen. Die lokalen Menschenrechte werden so formuliert, dass sie unvereinbar erscheinen mit den Menschenrechten anderer ethnischer oder religiöser Kollektive.
Zweitens macht die Hérouxville-Affäre den konstruierten und umkämpften Charakter des Lokalen deutlich. Während der liberale Premierminister von Quebec, Jean Charest, von einem »isolierten« Ereignis sprach, das er implizit der Idiotie des Landlebens zuschrieb, deutete der Vorsitzende der konservativ-populistischen Action Démocratique du Québec (ADQ), Mario Dumont, den Verhaltenskodex von Hérouxville als » cri du coeur « und unverfälschten Ausdruck des Protests der Quebecer Mehrheitsbevölkerung gegen vermeintlich kriterienlose Einwanderung undunvernünftige Zugeständnisse an den kulturellen Eigensinn von Migranten (zit. nach Hirtzmann 2007). Antirassisten in Montreal und muslimische Verbände wie der Canadian Islamic Congress (CIC) und das Canadian Muslim Forum (CMF) teilten diese Deutung des lokalen Ereignisses als Ausdruck einer nationalen oder sogar internationalen Stimmungslage, auch wenn sie selbstverständlich Dumonts Bewertung scharf zurückwiesen und mit einer Klage gegen Hérouxville bei der Quebecer Menschenrechtskommission drohten. Schließlich haben sichdie Protestakteure in Hérouxville selbst als local heroes und Weltbürgerschrecke stilisiert, indem sie ihren Normenkatalog an sechs Quebecer Minister sowie an den kanadischen Außenminister schickten und damit gezielt die Aufmerksamkeit von Politik und Öffentlichkeit auf sich zogen. Auf rechten Websites in Kanada und den USA wurde Hérouxville bald darauf »Heroville« buchstabiert.
Die verbale Kraftmeierei hat freilich nichts daran geändert, dass die muslimischen Gemeinden in Quebec –
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