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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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zerstörerische, repressive oder lächerliche Folgen zeitigen können, wenn sie mit rücksichsloser Konsequenz praktiziert werden« (Taylor 2011b: 859f.).
    Der Bericht der Bouchard-Taylor-Kommission wird genauer, indem er spezifiziert, was die kontextsensible Wahrung von Gleichheitsgrundsätzen von den Konfliktparteien verlangt. Dazu gehören »Offenheit für den Anderen«, »Kompromissbereitschaft«, »Geduld«, »Umsicht«, »Mäßigung« und »Urteilsvermögen [ discernment ]« (Bouchard und Taylor 2008: 25, 82, 88, 96, 116, 216, Fn. 64). Das Integrationsmodell, das Bouchard und Taylor vorschwebt und das sie bereits zu einem guten Teil in Quebec und Kanada verwirklicht sehen, räumt zunächst den »managers and front-line interveners« (ebd.: 64) in öffentlichen Institutionen, aber auch den entsprechenden Entscheidern in Unternehmen, Hausverwaltungen oder Sportverbänden eine Schlüsselstellung ein, weil ihnen die Aufgabe zukommt, auf außergerichtlichem Weg einvernehmliche Lösungen zu entwickeln und umzusetzen. Dieser Forderung liegt die Hypothese zugrunde, dass die Tugenden der Offenheit und Mäßigung auf diejenigen übergreifen, denen gegenüber sie praktiziert werden, bevor sie schließlich die gesamte Gesellschaft und ihren esprit générale erfassen. Es geht folglich nicht darum, die traditionellen Sitten und Gewohnheiten von Minderheiten und Migranten zu konservieren, sondern darum, zur allmählichen Herausbildung neuer gruppenübergreifender Verhaltensnormen beizutragen. Dieser Prozess vollzieht sich im Wesentlichen im »Alltagsleben« (ebd.: 82) und abseits der rechtlichen Sphäre und der Politik. Der Alltag der multikulturellen Gesellschaft ist somit nicht nur ein Objekt dauernder Reform der Umgangsformen, sondern auch deren Quelle. Diese Akzentsetzung erinnert an Montesquieu, der in Geist der Gesetze (19. Buch, Kapitel 14) schreibt, »dass man Sitten und Lebensstil [ mœurs et mani è res ], falls man sie ändern will, nicht auf dem Weg über Gesetze ändern darf. Das würde allzu tyrannisch erscheinen. Besser ist es, sie gegen andere Sitten und einen anderen Lebensstil auszuwechseln« (Montesquieu 1994: 302). Rationale Deliberation spielt dabei eine Rolle, aber wichtiger ist die Macht der sanften Gewöhnung an die selbstverständliche Präsenz von sichtbaren Minderheiten in allen Bereichen des sozialen Lebens.
    Nun ist die kanadische Variante der institutionellen Dauersensibilisierung für die kulturellen Bedürfnisse der Anderen für deren Praktiker zweifellos aufwendig und anstrengend. Weil dies so ist und die zu akkommodierenden Minderheiten dies auch spüren und sich gelegentlich, wie eine muslimische Verbandssprecherin bemerkt, als »Nervensägen [ pain in the neck ]« (zit. nach Sharify-Funk 2010: 546) betrachtet fühlen, ist der intendierte Integrationserfolg auch keineswegs garantiert. Wäre es da nicht einfacher, den laizistischen Hütern der Französischen Republik zu folgen, ein paar klare Verbotsnormen zu erlassen und eindeutige Bedeutungszuschreibungen vorzunehmen, die Entscheidern das Gefühl geben, genau zu wissen, dass zum Beispiel muslimische oder jüdische Kopfbedeckungen ein Zeichen von Unterdrückung oder Aberglaube sind?
    Das zentrale Argument aus kanadischer Sicht gegen dieses restriktive Modell lautet, wie gesagt, dass es auf einer selektiven, regional spezifischen Lesart der Menschenrechte beruht, die dem Staat und der »Vernunft« einen systematischen Vorrang einräumt vor der Freiheit der Einzelnen. Zudem gibt es eine demokratietheoretische Variante dieses Arguments. Bouchard und Taylor stimmen mit den Anhängern kultureller Assimilation zumindest darin überein, dass das Zugehörigkeitsgefühl von ethnischen und religiösen Minderheiten erstens für die Qualität der Demokratie wichtig ist, und zweitens durch geeignete Institutionen hergestellt werden muss. Allerdings glauben die beiden Kanadier, dass das Integrationsmodell der Assimilation kontraproduktiv ist, weil es kulturelle Differenzen als symbolische Kontamination des vernünftigen Gemeinwesens verteufelt anstatt sie dort, wo sie unschädlich sind, hervorzukehren und durch ihre Sichtbarmachung zur Entdramatisierung und Veralltäglichung fremder Sitten und Gewohnheiten beizutragen. Bouchard und Taylor glauben, dass das Zugehörigkeitsgefühl von Minderheiten mit stigmatisierbaren Gruppenmerkmalen zum nationalen Kollektiv in dem Maße wächst, wie diese angstfrei ihre Unterschiedlichkeit zeigen dürfen. Die

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