Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Wirklichkeit einer Provinz, die innerhalb der Föderation, in der sie liegt, auf eine kollektiv erinnerte Geschichte der Unterdrückung durch den Rest des Landes und die britische Krone zurückblickt. Die Bevölkerung Quebecs sieht sich größtenteils als numerische und symbolische Minderheit mit starken kulturellen Schutzbedürfnissen. Daraus ergibt sich, zweitens, dass die Arbeit der Kommission nicht wie in den anderen Fällen dem Ziel der Aufwertung, Anrufung oder Assimilation von Minderheiten gilt, sondern der Beschwichtigung der Mehrheit innerhalb der nationalen Minderheit der Quebecer. In diesem Zusammenhang formuliert der Bericht, drittens, auch für Europa interessante Kompromissangebote auf der Basis einiger neuer Konzepte .
Kasuistik und »reasonable accommodation«
Wie in Frankreich oder Deutschland geht es bei dem Konflikt in Quebec um die Grenzen der erlaubten Sitten und Gewohnheiten von hauptsächlich muslimischen Einwanderern und anderen, bereits einheimischen ethnischen und religiösen Minderheiten. Die Akteure in diesem Konflikt sind normale Bürger, Experten, Aktivisten, Berufspolitiker sowie prominente Soziologen und Philosophen. Der Schlüsselbegriff, um dessen Deutung und Anwendung gestritten wird, lautet »reasonable accommodation«, ein Ausdruck, den man im Deutschen am besten mit »kulturell oder religiös begründeten Ausnahmeregelungen« wiedergeben kann. Im Allgemeinen bezeichnet man damit in Kanada Maßnahmen und Programme in unterschiedlichen Handlungsfeldern, die drei Ziele haben: erstens die gesellschaftliche Anerkennung der kulturellen Besonderheiten von ethnischen Minderheiten und Einwanderergruppen, zweitens die Verwirklichung der Chancengleichheit durch die selektive Unterstützung dieser Gruppen und drittens die gruppenübergreifende Stärkung des sozialen Bandes. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass ein innerer Zusammenhang zwischen dem Multikulturalismus und einer Politik der Menschenrechte nur so lange besteht, wie alle diese drei Ziele gleichzeitig verfolgt werden. Abgetrennt von den Forderungen nach Chancengleichheit und der Festigung des sozialen Zusammenhalts ist das Zugeständnis etwa an muslimische Einwanderer, ihren traditionellen Sitten auch in einem westlichen Land treu bleiben zu dürfen, typischer Bestandteil eines »rechten Multikulturalismus« (Bar-On 2011), wie er zum Beispiel von der französischen Neuen Rechten vertreten wird.
Ich werde in drei Schritten verfahren. Zunächst schildere ich den Skandal um eine einwanderungskritische öffentliche Erklärung der Gemeinde Hérouxville in Quebec, die zur Gründung der Bouchard-Taylor-Kommission führte. In einem zweiten Schritt wende ich mich der Arbeit einer Kommission zu, die im Anschluss an jenen Skandal von der Provinzregierung Quebecs damit beauftragt wurde, die Anforderungen an die Integration von Migranten und anderen Minderheiten in Quebec zeitgerecht neu zu definieren. Der Abschlussbericht dieser Kommission ist interessant, weil er ein bestimmtes Modell der kulturellen Integration von nichteuropäischen Migranten und anderen Minderheiten mit einer menschenrechtspolitischen Polemik gegen das französische Modell republikanischer Assimilation verbindet. In einem dritten Schritt werde ich zusammenfassend das Verhältnisvon Rechten, Gewohnheiten und situativen Entscheidungsregeln in dieser Neufassung des Multikulturalismus diskutieren.
Die Hérouxville-Affäre
Im Januar 2007 wurde die kleine Gemeinde Hérouxville in der frankophonen kanadischen Provinz Quebec, etwa 150 Kilometer nordöstlich von Montreal, zum Mittelpunkt eines Skandals. Nach Debatten in Bürgerversammlungen und im Gemeinderat veröffentlichten der Bürgermeister und andere gewählte Vertreter einen Verhaltenskodex für zukünftige Einwanderer in diesem bis dahin einwandererfreien Ort. Der Kodex spezifizierte sowohl Verbotsnormen als auch solche Praktiken und Normen, die von Neuankömmlingen nicht infrage gestellt werden dürften. Eine zentrale Verbotsnorm wurde wie folgt formuliert: »Wir betrachten die Tötung von Frauen in öffentlichen Züchtigungen, oder ihre Verbrennung bei lebendigem Leib, nicht als Teil unserer Alltagsnormen [ normes de vie ].« 32 Zur zweiten Kategorie nicht verhandelbarer lokaler Sitten und Gewohnheiten gehörten Aussagen wie die folgende:
»Wir sind der Auffassung, dass Männer und Frauen gleichwertig sind. Das bedeutet, dass Frauen Auto fahren, frei wählen, Schecks ausstellen, tanzen, für sich selbst
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