Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
das Wasser im Schwimmbad ausgetauscht wird, falls zuvor Jungen darin geschwommen hatten. Muslimische Jungen wiederum haben vereinzelt auf der Ersetzung weiblicher durch männliche Lehrer bestanden. Sterbenskranke muslimische Patienten und deren Angehörige haben darum gebeten, dass Krankenhausbetten in Richtung Mekka verschoben werden. Orthodoxe jüdische Patientinnen haben sich geweigert, am Schabbat den Fahrstuhl von Krankenhäusern zu benutzen oder trotz erkennbarer Genesung das Krankenhaus zu verlassen, wenn dies die rituell verbotene Nutzung eines Kraftfahrzeuges eingeschlossen hätte (ebd.: Kap. 4). Hinzu kommen eine Reihe weiterer, massenmedial verstärkter Konflikte. Sollen multireligiös zusammengesetzte Städte in der Weihnachtszeit immer noch eine große Tanne vor dem Rathaus aufstellen und sie einen »Christbaum« nennen dürfen? Kann chassidischen Juden zugemutet werden, auf dem Weg zur Synagoge an einem Fitnesscenter mit verglasten Außenfassaden vorbeizugehen, wo sie den Anblick spärlich gekleideter Frauen auf Laufbändern ertragen müssen?
Die Zahl solcher Beispiele lässt sich nahezu beliebig vermehren, wobei die relativ hohe Zahl der Konflikte mit Muslimen auffällig ist. Das liegt auch daran, dass andere Gruppen, insbesondere ultraorthodoxe Juden in Montreal, auf eine etablierte Infrastruktur von jüdischen Krankenhäusern, Privatschulen und Gemeindezentren zurückgreifen können, während die muslimische Bevölkerung fast vollständig auf die Dienstleistungen des öffentlichen Sektors angewiesen ist. Ein Blick auf die Beispiele legt die Vermutung nahe, dass einige Konflikte wohl kaum jemals zugunsten der Antragsteller gelöst wurden (zum Beispiel die Ersetzung weiblicher durch männliche Lehrer), während andere Forderungen relativ mühelos und ohne hohe Kosten erfüllt werden konnten. Bouchard und Taylor legen Wert auf die Feststellung, dass es in den öffentlichen Institutionen Quebecs inzwischen eine Vielzahl erprobter »Harmonisierungspraktiken« und eine »genuine Philosophie des Ausgleichs« (ebd.: 82) gibt, die auf der Ablehnung standardisierter Regeln zugunsten einer zunehmend verfeinerten interkulturellen Kasuistik beruht.
Was ist darunter zu verstehen? Bei einer kasuistischen Problemlösung kommt es weniger darauf an, ein allgemeines Regelwissen oder ein Prinzip auf besondere Fälle anzuwenden, als vielmehr darauf, für die spezifischen Umstände und Details eines vorliegenden Falls offen zu sein, um Analogien mit bestimmten, aufmerksam gesammelten Präzedenzfallen in der Vergangenheit erkennen und vorgefasste Annahmen revidieren zu können. In ihrer Studie zur Geschichte und Wiederkehr der Kasuistik haben Albert Jonsen und Stephen Toulmin die klassische Kasuistik und ihre aktuellen Nachfolger treffend als eine »moralische Heilkunst« (Jonsen und Toulmin 1988: 250f.) beschrieben. Diese Formel lässt sich verallgemeinern: Ebenso wie ein guter Arzt sich für das besondere Leiden eines Patienten interessiert und neben der objektiven Diagnose das Gespräch mit dem Patienten sucht, sollen Entscheider in multikulturellen Institutionen in jedem Konfliktfall ein Gespür für die Besonderheiten von Ort, Zeit und beteiligten Personen entwickeln. Diese Besonderheiten, so ist die Formel von der »Philosophie des Ausgleichs« zu verstehen, erzwingen eine Ausdifferenzierung von Handlungsregeln und eine fallspezifische Adjustierung von moralischen Forderungen.
Das Konzept der kasuistischen Konfliktlösung ist tief in der Philosophie des Multikulturalismus verankert. Das wird schon bei Tully deutlich, derSir Matthew Hale, einen englischen Richter und Hobbes-Kritiker aus dem 17. Jahrhundert, zitiert. Gerechte Arrangements, so paraphrasiert Tully den Engländer, sind weniger das Resultat der Anwendung allgemeiner Regeln als das Ergebnis der Übung praktischer Fertigkeiten, zu denen auch die genaue Beobachtung und der Dialog gehören: »abstract rules are a hinderance rather than a help ›when it comes to particulars‹« (Tully 1995: 114). In Formulierungen, die an Burkes Polemik gegen den Vernunftkult der Französischen Revolution und die » sophistick tyrants of Paris « (Burke 1986: 207) erinnern, lobt auch Taylor nachdrücklich jene Formen moralischer Klugheit, die sich gegen die »rigide und blinde Anwendung von Normen« richten. Diese Kritik beruht auf der Einsicht, »dass alle anerkannten Regeln, verankerten Strukturen und herrschenden Ordnungen, wie vorzüglich sie auch immer sein mögen,
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