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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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Sichtbarkeit der Minderheiten im öffentlichen Raum und in den Institutionen der Gesellschaft ist demnach ein Indiz ihrer Integration. Dem liegt letztlich ein Argument zugrunde, dass Taylor bereitsin jüngeren Jahren formuliert hat, als er schrieb, dass Einwanderer durchaus »das Recht haben, im Prozess der Anpassung an die Aufnahmegesellschaft diese ihrerseits zu verändern« (Taylor 1994: 177).
Knabenbeschneidung und Religionsfreiheit
    Ich wende mich nun zwei neueren gesellschaftspolitischen Kontroversen zu, um einige der bisher diskutierten Motive aus der Ideengeschichte des Multikulturalismus etwas genauer zu beleuchten. Die erste Kontroverse betrifft das muslimische und jüdische Ritual der Knabenbeschneidung, die zweite die Frage nach den Grenzen der Rede- und Kunstfreiheit in einer kulturell und religiös pluralen Gesellschaft. In beiden Fällen mache ich mir das Interesse der Multikulturalisten an den Besonderheiten von konkreten Streitfällen und Konfliktgegenständen zu eigen. Oberflächlich betrachtet geht es in dem einen Fall um Körper und Körperpraktiken, in dem anderen um intellektuelle Praktiken. Eine genauere Analyse zeigt allerdings, dass es in beiden Fällen um dasselbe geht, nämlich darum, (a) ob die von kulturellen Minderheiten erhobenen Ansprüche mit dem Gleichheitsgrundsatz vereinbar sind oder aber auf die Gewährung von illegitimen Sonderrechten hinauslaufen, (b) ob die Rechte von Einzelnen Vorrang vor Gruppenrechten haben oder umgekehrt, und (c) ob in einer säkularen Gesellschaft religiöse Überzeugungen und Empfindlichkeiten einen besonderen Schutz genießen oder nicht.
    Die entscheidende Differenz zwischen den beiden Forderungen nach Einschränkung der Redefreiheit und nach Straffreiheit für die Knabenbeschneidung besteht darin, dass die erste Forderung die übrige Gesellschaft bindet und ihr Normen auferlegt, während die zweite Forderung keine Konsequenzen für Nichtjuden und Nichtmuslime hat, da niemand fordert, alle Bürger müssten ihre männlichen Nachkommen beschneiden lassen. Eine multikulturelle Gesellschaft erkennt man daran, wie es Taylor in der oben zitierten Aussage ausdrückt, dass sich nicht nur Migranten und Minderheiten an die Mehrheitsgesellschaft anpassen, sondern dass umgekehrt auch diese selbst zu einer Selbsttransformation bereit ist. Diese Erwartung ist jedoch im Beschneidungskonflikt von Muslimen und Juden gar nicht formuliert worden. Umso erstaunlicher war die enorme Erregung, die in der zweiten Jahreshälfte 2012 die deutsche Öffentlichkeit erfasste. Das Ritual der symbolischen Inkorporation in die religiöse Gemeinschaft mittels der männlichenBeschneidung ist sowohl für Muslime als auch für Juden ein zentrales Gebot und ist als solches weltweit von der Religionsfreiheit geschützt, sofern sie von fachkundigem Personal, etwa einem türkischen sünnetci oder, im Judentum, vom einem mohel vorgenommen wird. Das Ritual in seinen unterschiedlichen Ausprägungen war jahrzehntelang überhaupt kein öffentliches Thema in Deutschland, bis im Mai 2012 ein Kölner Landgericht in einem Kunstfehler-Prozess die rituelle Beschneidung von Jungen für strafbar erklärte und damit eine intensive Debatte auslöste. Diese Debatte kam erst im Dezember desselben Jahres vorläufig zur Ruhe, nachdem der Deutsche Bundestag mit den Stimmen der Regierungskoalition und Teilen der Opposition eine gesetzliche Regelung schuf. Das neue Gesetz sieht vor, dass fachgerecht ausgeführte Vorhautbeschneidungen bei Jungen weiterhin auch dann grundsätzlich zulässig sind, wenn keine medizinische Indikation vorliegt, sondern die Gründe des Eingriffs religiöser Natur sind.
    Das ursprüngliche Urteil, das die Beschneidung als strafbare Körperverletzung wertete, wurde von großen Teilen der Bevölkerung sowie von zahlreichen Ärzten und Juristen begrüßt. Die Gegner der Beschneidung beriefen sich auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit und das Konzept des Kindeswohls. Kaum jemand machte sich allerdings die Mühe, zu klären, was unter Kindeswohl verstanden werden kann und warum es im Streit um die Beschneidung keineswegs auf der Hand liegt, dass oder unter welchen Bedingungen der verurteilte Eingriff tatsächlich das Kindeswohl beeinträchtigt. Entscheidend für die Dynamik der Debatte war jedoch nicht die Güterabwägung zwischen körperlicher Unversehrtheit und Religionsfreiheit, sondern (1) die Art und Weise, in der die Details des Konflikts zum Anlass für eine weiterreichende

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