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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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Gesellschaften wie Großbritannien wird dieses binäre Schema allerdings durchkreuzt durch die öffentliche Intervention von einheimischen Intellektuellen, die wie Rushdie selbst auf eine muslimische Erfahrungs- oder Migrationsgeschichte zurückblicken. So macht gleich zu Beginn der Rushdie-Affäre der damals junge muslimische Soziologe Tariq Modood von sich reden, der heute zu den einflussreichsten europäischen Vertretern einer bestimmten Version des Multikulturalismus gehört und als solcher von Rushdie höchstpersönlich gegeißelt worden ist. 35
    Modood versucht kurz nach dem Erscheinen des Romans, einerseits die Wogen unter seinen Glaubensgenossen zu glätten, andererseits in der weiteren Öffentlichkeit auf die spezifischen Anerkennungsbedürfnisse von Muslimen aufmerksam zu machen. Vor dem Hintergrund der neueren französischen Gesetzgebung zum Verbot ostentativer religiöser Zeichen in öffentlichen Institutionen kann man die Stoßrichtung seiner Argumentation so beschreiben, dass er für die Unterbindung einer bestimmten Sorte ostentativ antireligiöser Zeichensysteme streitet. Das Ziel lautet: »protection [of Muslims] against offensive literature« (Modood 1993: 139). Bereits die Formulierung dieses Ziels ist tendenziös, weil sie unterstellt, dass ein Publikum einer bestimmten Literatur ausgesetzt wird, so als gäbe es einen Zwang, Texte zu lesen. Wenn es einen solchen Zwang gab, dann wurde er von britischen Moscheevereinen ausgeübt, in denen skandalumwitterte Stellen aus Rushdies Roman kopiert und mit dem Ziel der Aufhetzung unter das Volk gebracht wurden. Systematisch wichtiger ist allerdings der Versuch Modoods, seiner Forderung nach einem Schutz der Muslime vor beleidigender Literatur einen multikulturellen Anstrich zu geben. So führt er historisch bedingte Differenzen in der Kränkbarkeit ins Feld, die Gruppen in unterschiedlicher Weise disponieren, »respektlose« Kunst zu würdigen:
    »Is it not obvious that different cultural groups will value irreverent literature in different degrees depending on their history and the vulnerabilities of their position? While some groups may be able to use irreverence positively, others may be demoralised and disabled by it. If so, equality cannot require everybody to be exposed to the same degree of irreverent literature. Equality, indeed, may best be served by giving a minority group a legal protection that the majority does not want for itself.« (Modood 1990a: 133f.)
    Modood polemisiert anfangs zu Recht gegen das ältere britische Blasphemiegesetz, das auf den Schutz der Church of England und des christlichen Glaubens beschränkt war. Dieses Gesetz wurde mittlerweile nicht auf den Schutz anderer Religionen ausgeweitet, sondern im Jahr 2008 – aus meiner Sicht wiederum zu Recht – ganz abgeschafft. 36 Das Argument der differenziellen Kränkbarkeit von Gruppen gewinnt erst vor diesem Hintergrund eines konsequent säkularen Staates an Gewicht. So versucht Modood, das Ziel des Schutzes von Muslimen vor respektloser Literatur nicht mehr mit Argumenten für Blasphemiegesetze zu erreichen, sondern auf dem plausibleren Weg von Argumenten für eine Neuauslegung der Gesetze zum Schutz vor group defamation oder, in der Sprache des deutschen Strafgesetzbuchs: Volksverhetzung. Die Aufgabe besteht darin, zu zeigen, dass eine bestimmte Sorte religionskritischer Aufführungen, Zeichnungen oder Texte nicht nur eine Religion verulkt oder in den Schmutz zieht, sondern damit eo ipso auch diejenigen hassenswert erscheinen lässt, die an diese Religion glauben.
    Modood möchte beweisen, dass die Verleumdung des Propheten Mohammed eine Verleumdung jedes einzelnen Muslims ist: »a defamation of the Prophet is indeed a defamation of Muslims« (Modood 1993: 145). Er geht in mehreren Schritten vor. Zunächst gibt er zu, dass Glaubenssätze und Personen unterschieden werden können und nicht jede Kritik an einem Glaubenssatz persönlich genommen werden darf. Diese Unterscheidung gelte aber nicht für solche Glaubenssätze, die der »Selbstdefinition der Gruppe« (ebd.) zugrunde liegen, der die jeweilige Person sich zugehörig fühlt. Holocaust und Sklaverei werden als Beispiele von Darstellungsgegenständen angeführt, die sich tief in die Psyche von Juden und Afro-Amerikanern eingegraben und ihre kollektive Identität geformt hätten. Tatsächlich gelten die Leugnung oder Rechtfertigung von Holocaust und Sklaverei in westlichen Gesellschaften als teilweise strafbarer Angriff auf

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