Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
(Schnitzler 2007: 147).
Minderheiten, Volksverhetzung und Redefreiheit
Der Multikulturalismus rückt die Bedürfnisse nach Anerkennung ins Zentrum, die Einzelne als Angehörige von ethnischen oder religiösen Gruppen artikulieren, und beharrt darauf, dass dazu die allgemeinen Bürgerrechte nicht immer ausreichen, sondern »zusätzliche Maßnahmen« (Kymlicka 1995: 107) wie etwa Quotenregeln oder Ausnahmeklauseln notwendig sein können. Die Beschneidungskontroverse bleibt gleichsam unterhalb dieser kritischen Schwelle, weil Juden und Muslime nicht von einem bestehenden Verbotsgesetz ausgenommen werden wollen, sondern zusammen mit anderen dafür streiten, dass ein solches Verbotsgesetz erst gar nicht verabschiedetwird. Tatsächlich wäre Deutschland das erste Land auf der Welt gewesen, das rituelle Beschneidungen an Jungen pauschal verboten hätte. In anderen Fällen, etwa bei der Zulassung des Schächtens von Schlachttieren, haben Muslime und Juden in Deutschland dagegen für Ausnahmeregelungen vom Tierschutzgesetz gekämpft, die ihnen auch gewährt wurden (vgl. Lavi 2009). Solche Ausnahmeregelungen sind jedesmal umstritten und begründungsbedürftig. Noch umstrittener sind Maßnahmen, die nicht nur Minderheiten unter bestimmten Voraussetzungen von der Bindung an allgemeine Gesetze befreien, sondern umgekehrt der Gesamtgesellschaft neue verbindliche Normen auferlegen.
Ich möchte nun zwei exemplarische Fälle dieses letzten Typs ansprechen. Kurz in Erinnerung rufen werde ich zuerst den von 1976 bis 1986 anhaltenden Streit um den Text und die Aufführung des Stücks Der Müll, die Stadt und der Tod von Rainer Werner Fassbinder, das für viele Juden und Nichtjuden nicht ein Kunstwerk darstellte, sondern ein antisemitisches Machwerk. Ausführlicher eingehen werde ich danach auf die Affäre um die Veröffentlichung von Salman Rushdies Roman Die Satanischen Verse im Jahr 1988 und danach. Dieser Skandal ist für uns deshalb besonders interessant, weil sich in England auch prominente akademische Vertreter des Multikulturalismus für Maßnahmen gegen Rushdies Roman aussprachen. Die Rushdie-Affäre soll stellvertretend für eine Reihe anderer Fälle der letzten Jahre behandelt werden, bei denen sich vor allem Muslime durch Texte, Theaterstücke, Cartoons oder Filme herausgefordert und verletzt fühlten und lautstark ihren Unmut äußerten. Der Streit um Rushdies Roman hat Ambivalenzen und Unsicherheiten ans Licht gebracht hat, die in Europa das Unbehagen am Multikulturalismus nähren. Diese Ambivalenzen und Unsicherheiten betreffen Grundfragen, die im Laufe der Diskussion in diesem Buch wiederholt angesprochen worden sind. Dazu gehören die Klärung des Verhältnisses von Staat, kulturellen Gruppen und Individuen, die Unterscheidung zwischen starken und schwachen Varianten des Multikulturalismus und das Problem der Möglichkeiten und Grenzen des Rechts.
Fassbinder und die Juden
Zuerst jedoch ein paar Worte zum Skandal um das genannte Theaterstück von Fassbinder. Aus der Sicht einer Geschichtsschreibung des Multikulturalismus ist die jahrelange heftige Kontroverse um dieses Stück interessant,weil sie ein Licht wirft auf jüngere Konflikte, die uns in frischerer Erinnerung sind, etwa den Konflikt um die dänischen Mohammed-Karikaturen. Im Mittelpunkt des Fassbinder-Stücks steht ein klischeehaft gezeichneter »reicher Jude«, der als Bauspekulant in Frankfurt am Main sein Geld zum Schaden von Mietern verdient. Anders als im klassischen Antisemitismus ist der reiche Jude allerdings nicht persönlich allmächtig und verworfen, sondern nur eine Charaktermaske des Systems der Stadt. Gleichwohl entbrannte bereits um die Textfassung des Stücks ein hitziger Streit über die Frage, ob Fassbinder antisemitische Klischees aktiv bediente, mit diesen trickreich spielte oder sie entlarvte (vgl. Hargens 2010). Schon dieser erste Konflikt erreichte eine Intensität, die 1976 zum Auslieferungsstopp des bei Suhrkamp erschienenen Buches führte. Wichtig ist, dass dieses Ergebnis die Folge eines publizistischen Streits war, bei dem Juden und jüdische Interessenvertretungen noch gar keine nennenswerte Rolle spielten. Vielmehr waren es nichtjüdische Deutsche, die aus mehr oder weniger redlichen Motiven stellvertretend für die Juden gegen Fassbinder stritten und ihm Antisemitismus und vereinzelt auch strafbare Volksverhetzung vorwarfen. Wanja Hargens weist in ihrer mentalitätsgeschichtlichen Untersuchung der Affäre darauf hin, dass
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