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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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die Integrität und den Status der Mitglieder jener Gruppen. Im nächsten Schritt behauptet Modood, dass die Beschmutzung der »Ehre des Propheten« (ebd.: 143) für Muslime in derselben Weise unerträglich sei wie die Leugnung des Holocaust oder die Rechtfertigung der Sklaverei für Juden und Schwarze. Daraus ergibt sich folgender Schluss: Um es auch Muslimen zu ermöglichen, sich als vollwertige und gleichberechtigte Bürger zu betrachten, muss die Ehre Mohammeds inderselben Weise geschützt werden wie eine bestimmte Art der respektvollen Rede über Holocaust und Sklaverei.
    Diese durchaus einflussreiche, von vielen nachvollzogene Argumentationskette sollte uns schon deshalb beschäftigen, weil sie ganz in das Bild zu passen scheint, das sich konservative und liberale Kritiker vom Multikulturalismus machen. Modood redet von »kulturellen Gruppen« als geschlossenen Ganzheiten, die als solche Rechte beanspruchen, über eine eigene Psyche verfügen und den Rest der Gesellschaft in die Schranken weisen. Der »Westen«, so Modood mit leicht drohendem Unterton, kann von den Muslimen »Respekt vor der Religion lernen oder wiedererlernen« (ebd.: 153). In einem anderen Text wird Rushdie stellvertretend für die Figur des modernen Künstlers kritisiert, der sich selbst begreife als »a Nietzschean übermensch , towering above conventional morality with perfect liberty to publish imaginative explorations regardless of social consequences« (Modood 1990a: 134). Modood meint das zum damaligen Zeitpunkt ganz ernst: Im Namen des Multikulturalismus und angesichts der kulturellen Reizbarkeit von Gruppen, von denen er sagt, sie seien von einem »voraufklärerischen religiösen Enthusiasmus« (ebd.) ergriffen, solle die Kunst auf den Boden der »konventionellen Moral« zurückkehren.
    Auch wenn sich bei diesem Autor unterschiedliche Formulierungen finden lassen und manches aus heutiger Sicht der Hitze der Polemik zuzuschreiben ist, die damals in Großbritannien herrschte, überwiegt doch der Eindruck einer antiliberalen Argumentation im Namen des Multikulturalismus. Zur Erinnerung: Die liberale Idee der Rede- oder Mitteilungsfreiheit verbietet es, bestimmte Gegenstände wie die Religion zu tabuisieren oder nur bestimmten Sprechern vorzubehalten; sie erlaubt das ganze Spektrum von argumentativen, rhetorischen und künstlerischen Redegenres und schließt ausdrücklich unwahre und unaufrichtige Äußerungen mit ein; und sie beruht auf dem Gedanken, dass man der freien Rede der Anderen zwar nicht zuhören muss, aber auch kein Recht hat, nicht von ihr behelligt zu werden. Fremde Gedanken dürfen einem auch per Hauswurfsendung zugestellt werden (so das Beispiel in Niesen 2008: 66). Die Version des Multikulturalismus, die Modood vertritt, akzeptiert keinen einzigen dieser Sätze ohne Einschränkung.
    Ich möchte nun so verfahren, dass ich die skizzierte Gegenargumentation Modoods zu entkräften versuche, um danach aus den Überbleibseln seines Gedankengangs die richtige Intuition zu bergen, die für die von mir verteidigte Position eines liberalen Multikulturalismus zentral sind. Insgesamthabe ich zwei empirische und zwei normative Einwände, gefolgt von einem Zugeständnis.
    1. Mein erster Einwand betrifft die schwer zu beantwortende empirische Frage, wie die Beschädigung des Andenkens des Propheten Mohammed auf Muslime wirkt. Modood (1990b) selbst hat erfreulicherweise eine kleine Studie zur politischen Soziologie des muslimischen Protests gegen Rushdie geschrieben. Das Ergebnis ist, dass die britischen oder gar die Muslime weltweit keineswegs ein Kollektiv bilden, das sich einheitlich erhob und empörte. Vielmehr haben wir es wie immer mit Heterogenität und Vielfalt zu tun. Der Protest gegen Rushdie wurde hauptsächlich getragen von Muslimen in und aus Südasien, nicht etwa von Arabern, Türken oder anderen Gruppen. Bei den britischen Muslimen aus Pakistan und Indien unterscheidet Modood die Anhänger der apolitischen Deobandi-Strömung, die sunnitisch-fundamentalistische Mittelklasse mit Kontakten nach Saudi-Arabien und die kultbegeisterte Barelvi-Bewegung. Während es ausgerechnet die sunnitischen Fundamentalisten waren, die in der Rushdie-Affäre frühzeitig beschwichtigend wirkten, bildeten die Barelvis die Speerspitze der Bewegung gegen den Schriftsteller. 37 Die Leidenschaft und Intensität ihres Protests erklärt Modood mit einer besonderen kultischen Hingabe, die »normalerweise auch von anderen Muslimen als exzessiv

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