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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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gewahrt haben. Dies klingt auch in einem fast resignativ anmutenden Kommentar an, der am Tag nach der Verabschiedung des Beschneidungsgesetzesin der FAZ erschien: »[…] die Politik handelt nicht im historisch und (außen-)politisch luftleeren Raum. Die körperliche Unversehrtheit des einzelnen Kindes muss hinter der Unantastbarkeit der deutsch-jüdischen Symbiose zurückstehen« (Müller 2012).
    Mit Blick auf die Geschichte des Multikulturalismus ist die Beschneidungsdebatte trotz ihres minderheitenfreundlichen Abschlusses durch den Gesetzgeber symptomatisch für die Stärke einer neo-assimilatorischen Gegenströmung. Ein strafbewehrtes Verbot der Beschneidung, das nach wie vor von zahlreichen Experten und anderen Bürgern gefordert wird, muss als eine außerordentlich harte Assimilationsmaßnahme gelten. Um dafür ein Gefühl zu bekommen, zitiere ich aus Jean-Paul Sartres Essay Überlegungen zur Judenfrage , der unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht wurde. Darin listet der französische Philosoph noch einmal die Maßnahmen zur zwangsweisen Assimilation von Juden auf, die auch in seinem Land immer wieder diskutiert worden sind, und nennt als Beispiel »strenge Verbote in der Religionsausübung, insbesondere der Beschneidung« (Sartre 1994: 86). Wenn man bedenkt, dass solche Verbote, die Sartre zu seiner Zeit »radikal« und »unmenschlich« nannte, neuerdings in Deutschland wieder diskutiert worden sind, wird deutlich, in welchem Maße kultureller und religiöser Pluralismus noch immer ein Skandal ist.
    Für die Rückkehr des Assimilationsgedankens spricht bereits die Fixierung auf die »barbarischen Rituale« der Anderen, ein Topos, der auch in Susan Okins Kritik am Multikulturalismus eine Rolle spielt (vgl. die Kritik in Gilman 1999). Barbarische Rituale lösen ein Gefühl des Ekels aus, und es ist leicht, Beispiele für Praktiken zu finden, die heute universell als abstoßend empfunden werden. In den Multikulturalismus-Debatten werden Assimilationsforderungen häufig durch Vergleiche mit solchen eindeutig barbarischen Riten unterstrichen. »Auch die Witwenverbrennung ist schließlich überwunden worden«, kommentierte zum Beispiel eine Politikerin der Grünen im September 2012 das jüdische und muslimische Beschneidungsritual (Schewe-Gerigk, zit. nach Tichomirowa 2012). Bemerkenswert an diesem Kommentar ist nicht nur die Drastik der historischen Analogie, sondern auch die verdeckte Bezugnahme auf die humanitären Aspekte des Kolonialismus. Witwenverbrennungen sind in Indien erstmals im Jahr 1829 vom britischen Generalgouverneur Lord William Cavendish Bentinck verboten worden.
    Neben dem Topos des barbarischen Rituals überrascht an der deutschen Beschneidungsdebatte die Unfähigkeit der meisten Fachleute und Kommentatoren zur Perspektivenübernahme. Auffällig ist, um mit Max Weber zu sprechen, »daß die abweichende ›Sitte‹ in ihrem subjektiven ›Sinn‹ nicht durchschaut wird, weil dazu der Schlüssel fehlt« (Weber 1976: 236). Teils wurde dieser Schlüssel nicht gesucht, teils wurde er weggeworfen. Der Zuspruch, den die Kölner Richter und die Befürworter eines Verbots im Netz und bei Teilen der akademischen Elite bekamen, speiste sich aus dem Wunsch, wieder einmal eine Grenze zu ziehen zwischen der einheimischen Kernbevölkerung und all denen, die nicht dazugehören. Dazu gesellte sich, wie der Tucholsky-Preisträger Deniz Yücel (2012) in der taz schrieb, der kaum verhohlene »Wunsch nach Maßregelung«. Zur Ahnungslosigkeit über das Kränkungspotenzial, das mögliche Verbotsmaßnahmen bergen, kam daher der Wille zur Missachtung. Auch ohne ein Verbotsgesetz haben die Gegner des kulturellen Pluralismus ein Ziel erreicht, indem sie Minderheiten im Land an die Asymmetrie erinnert haben zwischen denen, deren Rituale als barbarisch klassifiziert werden, und den anderen, die nicht auf die Idee kommen, ihre eigenen, für Juden und Muslime widerwärtigen Praktiken – zum Beispiel das Essen von toten Schweinen – infrage zu stellen. Man kann auf hundert Jahre alte Zeugnisse zurückgehen, um die erniedrigende Ungleichbehandlung zu ermessen, die in dieser Asymmetrie liegt: »Von Jugend auf werden wir darauf hingehetzt«, klagt eine Figur in Arthur Schnitzlers Roman Der Weg ins Freie , »gerade jüdische Eigenschaften als besonders lächerlich und widerwärtig zu empfinden, was hinsichtlich der ebenso lächerlichen und widerwärtigen Eigenschaften der andern eben nicht der Fall ist«

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